Merz-Gesetz hätte „EU-Recht widersprochen“: So will die EU mit GEAS die Migration steuern

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Die Migration ist das am stärksten diskutierte Thema vor der Bundestagswahl. Aber: Die EU hat bereits eine neue Asyl-Reform ab 2026 beschlossen.

Straßburg – Als Friedrich Merz (CDU) für den Asyl-Antrag seiner Fraktion im Bundestag die Unterstützung der AfD in Kauf nahm, löste der Unions-Kanzlerkandidat ein politisches Beben in Deutschland und Europa aus. Seit 1945 gab es in der Bundesrepublik eine Abmachung unter demokratischen Parteien: keine Abstimmungen mit Rechtsextremen. Aber: Welche Konsequenzen hat Merz‘ erfolgreicher Antrag? Und welche Folgen hätte der Erfolg des gescheiterten Zustrombegrenzungsgesetzes gehabt?

Die EU-Abgeordnete Birgit Sippel (SPD) sagt: Das Vorhaben der Union hätte eindeutig dem EU-Recht widersprochen. Ab 2026 soll das neue Gemeinsame Europäische Asylrecht (GEAS) die Migrationspolitik in der EU besser und gerechter gestalten. Sippel hat an dem neuen Asylrecht selbst mitgearbeitet.

Was haben Sie gedacht, als sie vom Asyl-Antrag von Friedrich Merz‘ (CDU) und der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag gehört haben?

Ich habe von Anfang an gedacht, dass sie die Stimmen der AfD nicht nur in Kauf genommen haben. Der Union war klar, dass die AfD ihr selbstverständlich zustimmt. Diese Unterstützung haben CDU und CSU also bewusst eingerechnet. Es war auch absehbar, dass keine andere Partei sie unterstützt. Insofern war das kein Zufall, sondern orchestriert. Womöglich auch in dem Glauben, dass man der AfD den Rang abläuft, wenn man selbst starke Sprüche ablässt. Das hat noch nie funktioniert.

Weil Wählerinnen und Wähler trotzdem das Original wählen, heißt es zumindest oft.

Genau. Das Problem ist dabei: Mit diesen Manövern machen demokratische Parteien die Rechtsextremen salonfähig. Das ist ein gefährliches Spiel.

Glauben Sie, dass diese zunehmende Salonfähigkeit das politische Kalkül der Union war? Dass Merz eine Zusammenarbeit mit der AfD stückweise vorbereitet? Tatsächlich verabschiedet wurde ja nur ein Antrag, der höchstwahrscheinlich in der Realität nicht viel verändern wird.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Herr Merz dachte: Jetzt haue ich ein paar markige Sprüche raus, damit die Leute denken, ‚Ach guck mal, der will wirklich etwas tun.‘ Das wird im Kopf dann übersetzt in ‚Der tut ja was‘ und das verfängt dann. Technisch hatte das zwar keine Auswirkungen. Aber es war das klare Signal: Herr Merz und seine CDU setzen auch auf die Stimmen einer Partei, mit denen man niemals zusammenarbeiten wollte – und die im Übrigen alles Mögliche vertritt, nur nicht die Interessen der Beschäftigten und der breiten Mehrheit.

Asyl-Debatte in Deutschland: EU-Abgeordnete wünscht sich mir Sachlichkeit

Mit diesem impulsiven Verhalten hatten viele auch im ersten TV-Duell zwischen Merz und Olaf Scholz gerechnet, aber viele Emotionen zeigten beide Kandidaten nicht. Im Nachgang haben zahlreiche Kommentatoren die sachliche Debatte gelobt. Ist das nicht bitter, wenn ein Rededuell zwischen den aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten für die größtenteils sachliche Auseinandersetzung gelobt wird?

Ich würde mir sehr viel mehr sachliche Debatten wünschen. Ich verstehe aber auch, dass Menschen sehen wollen, dass den Politikern Themen wirklich wichtig sind – und diese Leidenschaft kann durch Sprache und völlig ohne Hetze transportiert werden. Wenn wir zunehmend markige Sprüche und das Schüren von Ängsten sehen wollen – statt Sachlichkeit und Fakten – dann wäre das eine gefährliche Entwicklung.

Birgit Sippel verschränkt die Arme und lehnt an einer Wand.
Birgit Sippel (SPD) sitzt seit 2009 im Europäischen Parlament und hat am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) mitgearbeitet. © Europa-SPD

Beschreiben Sie gerade das Kernproblem ihres Kanzlerkandidaten? Das wohl häufigste Attribut, mit dem Scholz tituliert wird, ist unnahbar.

Er ist nach außen eher ein trockener Mensch, eben trocken hanseatisch. So ist er eben. Nach meiner Erfahrung ist er viel nahbarer, wenn er nicht vor großem Publikum steht, sondern sich mit Menschen unterhält. Mit dem Beginn des Ukraine-Krieges hatte ich den Eindruck, dass viele Leute glücklich über einen – in Anführungszeichen – langweiligen Kanzler waren. Viele schätzten, dass Scholz einen kühlen Kopf bewahrt, nach Fakten urteilt und sich nicht treiben lässt. Dass seine Art jetzt negativer rüberkommt, hat vermutlich mit dem sehr kurzen Wahlkampf vor der Bundestagswahl zu tun. Alles ist hektisch und es gibt keine Zeit, damit sich eine Kampagne entfalten kann. Aber wie gesagt: Ich würde mich freuen, wenn sich alle stärker um vermeintlich langweilige und eben sachliche Debatten bemühen.

Asyl-Debatte nach Aschaffenburg: Hätten Merz und AfD das EU-Recht gebrochen?

Apropos Wahlkampf: Spätestens seit Magdeburg und Aschaffenburg ist die Migrationspolitik das bestimmende Thema. Wenn das Zustrombegrenzungsgesetz der Union nicht gescheitert wäre und das Land seine Grenzen quasi geschlossen hätte: Würde Deutschland nicht EU-Recht brechen?

Tatsächlich würde das dem EU-Recht widersprechen. Ich möchte an dieser Stelle betonen: Wenn wir tatsächlich jede Person und jedes Fahrzeug an allen Grenzen kontrollieren wollten, wäre das ein enormer Aufwand. Es führt letztlich zu langen Staus und Wartezeiten an den Grenzen, was sich negativ auf unsere Wirtschaft, aber auch die Menschen auswirkt, die als Pendler täglich eine Grenze überqueren.

Was wären die rechtlichen Konsequenzen?

Die EU kann Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Wenn ein Land nach einer festgelegten Frist Regeln immer noch nicht einhält, kann die Kommission den Mitgliedstaat vor den Europäischen Gerichtshof bringen. Dieser kann dann Bußgelder festsetzen.

Migranten sitzen in einem Boot im Mittelmeer.
Mehrere Migranten sitzen in einem Boot im Mittelmeer während Rettungskräfte versuchen ihnen zu helfen. © Antonio Sempere/dpa

Wie hoch wären diese?

Das können durchaus hohe Summen sein. Der Gerichtshof hat 2022 beispielsweise Ungarn ein Bußgeld von über 200 Millionen Euro auferlegt, weil es eine Rechtsprechung nicht umgesetzt hat. Zuzüglich einer Strafzahlung von einer Million Euro, für jeden Tag, den Ungarn hier nicht tätig wird.

EU will Migrations-Politik mit GEAS verbessern

Wären Bußgelder das einzige Rechtsmittel?

Über Vertragsverletzungsverfahren gibt es bei anhaltenden und ernsthaften Verletzungen der EU-Grundsätze noch ein Verfahren, um einem Mitgliedstaat die Stimmrechte auszusetzen. Der wirkliche Schaden wäre, dass ein großes Land wie Deutschland damit auch ein Signal an andere EU-Länder sendet, eben keine sachliche Antwort auf Fragen von Asyl und Migration zu finden, sondern auch für besonders schutzbedürftige Menschen schlicht die Grenzen zu schließen. Damit wird die Axt an das gerade erst beschlossene europäische Asylsystem gelegt, womöglich auch bewusst jetzt im Wahlkampf. Denn die Einigung kam auch mit deutscher Unterstützung und einer sozialdemokratischen Innenministerin zustande.

Das zuletzt so häufig zitierte Gemeinsame Europäische Asylsystem – kurz GEAS – soll die Migrationsprobleme innerhalb der EU lösen. Wie?

Zuvor will ich auf eine Problematik hindeuten. Ich bin immer irritiert, wenn Leute sagen: Wir wollen keine Migranten mehr, aber wir brauchen viele Menschen, die bei uns arbeiten und die Wirtschaft am Laufen halten. Dann denke ich immer: Diese Migranten, die als Geflüchtete kommen, sind in der großen Mehrheit mit etwas Zeit diejenigen, die in Deutschland unsere Busse fahren, die in Handwerksbetrieben arbeiten und uns als Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte versorgen. Allerdings habe ich für einen Punkt Verständnis: Die Menschen wollen wissen, wer ankommt. Und hier setzt GEAS an. Menschen, die an den europäischen Grenzen ankommen, werden systematisch identifiziert und registriert. Es wird geprüft, ob sie früher schon einmal in der EU waren oder ob sie schon einmal wegen einer Straftat verurteilt wurden.

Was geschieht dann?

Die Registrierung und ersten Prüfungen dauern maximal sieben Tage. Und weil wir dann wissen, wer kommt, können wir direkt danach die Zuständigkeiten für die EU-Staaten feststellen. Wer etwa in Italien ankommt, aber Verwandte mit Asylstatus in Frankreich hat, würde dort das Asylverfahren durchlaufen.

Wie Ungarn und andere Staaten keine Migranten aufnehmen müssten

Klingt nach einem einfachen und theoretisch reibungslosen Ablauf. Werden alle Mitgliedsstaaten so unproblematisch kooperieren? Beispielsweise Ungarn?

Für diese Staaten gibt es leider eine kleine Ausflucht. Viktor Orbán könnte sagen: Ich will niemanden aufnehmen. Dafür bin ich bereit, anderen Ländern Geld zu zahlen und ihnen ungarisches Personal und notwendige Technik zu schicken.

Verschiedene Nichtregierungs-Organisationen äußern den Vorwurf: Diese Einrichtungslager entsprechen nicht humanitären Kriterien – vor allem, weil dort auch Kinder untergebracht werden sollen.

Natürlich ist es schwer, wenn Kinder in geschlossene Einrichtungen kommen. Leider ist es uns nicht gelungen, für Kinder und Familien eine Ausnahme durchzusetzen. Umso wichtiger ist es, auf Einhaltung des Gesetzes über die Aufnahmebedingungen zu achten. Kinder brauchen Spielmöglichkeiten, unbegleitete Minderjährige brauchen eine Vertretung und müssen getrennt von Erwachsenen untergebracht werden. Und während des Asylverfahrens muss auch ein Schulbesuch ermöglicht werden.

Dürfen die Bewohner auch mal etwas frische Luft schnuppern?

Es geht ja nicht um Einrichtungen mit Zellen, sondern es geht oft um Gebäude oder Container auf einem umschlossenen Gelände, das man verlassen kann. Ich würde mir aber wünschen, dass, wenn sich die neuen Regeln eingespielt haben, mehr Bewegungsfreiheit möglich wird.

GEAS soll EU-Verteilung von Flüchtlingen gerechter gestalten

GEAS verspricht eine gerechtere Verteilung der Migranten. Wie sieht diese aus?

Die Kommission wird regelmäßig prognostizieren, wie viele Menschen nach Europa flüchten werden. Dann erstellt sie Prognosen, welche Mitgliedstaaten gegebenenfalls unter Migrationsdruck geraten könnten und welche Solidaritätsmaßnahmen aus den anderen Mitgliedstaaten in solchen Fällen benötigt werden – zum Beispiel, wie viele Personen in andere Länder verteilt werden sollten. Dazu erstellt die Kommission einen Schlüssel zur Verteilung. Und dann entscheiden die Mitgliedsstaaten, wie viele sie aufnehmen.

Wenn Länder wie Ungarn – oder Merz es für Deutschland geplant hatte – niemanden aufnehmen: Was passiert dann?

Den Mitgliedstaaten steht es frei, ihre Solidaritätsmaßnahmen aus drei Optionen zu wählen: Aufnahme von Personen, finanzielle Unterstützung oder materielle Unterstützung. Aber für eine dieser Optionen müssen sie sich entscheiden. Sollte dies nicht geschehen, dann kann die EU die betreffenden Staaten sanktionieren oder verklagen. In einem weiteren Schritt sollte die EU den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus nutzen, um EU-Hilfen einzufrieren. Das wäre nicht meine Wunschlösung, aber im Einzelfall sollten wir diesen Druck ausüben. 

EU-Abgeordnete sieht Gefahr für Erstarken der Rechtsextremen in Europa

Warum tritt GEAS erst 2026 in Kraft?

Aufgrund der weitreichenden Änderungen haben die Mitgliedsstaaten auf einer Phase von zwei Jahren für die Umsetzung bestanden.

Werden die rechtsextremen Kräfte durch diese Verzögerung nur weiter gestärkt?

Die Gefahr besteht, aber umso wichtiger ist jetzt die Konzentration auf die Umsetzung dessen, was beschlossen wurde. Die Beschlussfassung hat gerade im Rat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Dafür sollten sie jetzt alle Beschlüsse des Asylpaketes zügig umsetzen. (Interview: Jan-Frederik Wendt)

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