Die erste Merz-Bilanz ist frappierend - seine Beratungsresistenz macht es noch schlimmer

Die ersten 100 Tage einer Regierung gelten als „Honeymoon“ - als Flitterwochen. Die Wähler geben der neuen Regierung Vorschussvertrauen, es gibt eine gewisse mediale Schonfrist und ein frischer Wind, der Verbesserungen verspricht, weht durchs Land. 

Doch das Debüt der neuen Bundesregierung war schon mit einem Makel behaftet: Am 6. Mai 2025 verfehlte Friedrich Merz im ersten Wahlgang die Kanzlermehrheit um sechs Stimmen – trotz offizieller Koalitionsdisziplin. 

Ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik. Mutmaßliche Abweichler aus der SPD-Fraktion, oder gar aus seiner eigenen, ließen den frisch gewählten Kanzler im Regen stehen. Erst der zweite Anlauf, nur möglich durch Unterstützung der Linken bei der Terminierung, brachte die Mehrheit – und das Gefühl, dass diese Große Koalition schon am ersten Tag auf wackeligen Beinen steht.

Milliarden auf Pump: Verfassungsänderung vor Amtsantritt

Noch vor der Vereidigung änderte die Koalition, unter Mithilfe der Grünen, das Grundgesetz, um die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben zu lockern. Gleichzeitig wurde ein 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen für Infrastruktur aufgelegt. 

Für die Union – jahrzehntelang eiserner Hüter solider Finanzen – ein harter Kurswechsel. Die Botschaft: Die Regierung will investieren – zahlt aber mit geliehenem Geld. 

Uwe Wagschal, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Freiburg. Er erforscht Direkte Demokratie, Wahlen und öffentliche Finanzen und lehrte an renommierten Institutionen weltweit. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Doch selbst nach zwei EZB-Zinssenkungen liegen die Zinsen noch über dem Niveau vor der Verfassungsänderung, weil die Regierung sich damit Unglaubwürdigkeit und Unsicherheit mit eingekauft hat. 

Die Folgen: mehrere Milliarden Euro zusätzlicher Zinslast pro Jahr. Diese Kosten drücken auf den Bundeshaushalt, verteuern Kredite für Unternehmen und wirken langfristig auch bei privaten Haushalten nach. 

Die positiven Effekte dieser Schuldenwirtschaft werden weitgehend verpuffen, denn Konsumenten, Unternehmen und der Staat müssen Milliarden für gestiegene Zinsen bezahlen.

Außenpolitisch: Merz zwischen Charmeoffensive und Zolldeal

Paris, Warschau, Washington – Merz startete außenpolitisch im Dauerlauf und machte auf internationalem Parkett „bella figura“. Ein blasser Außenminister Wadephul macht es ihm leicht, sich in Szene zu setzen. Das Treffen mit Donald Trump verlief überraschend harmonisch, beide lobten den „guten Draht“. 

Doch die Stimmung änderte sich: Trumps wiederholte Drohungen mit Strafzöllen auf europäische Autos würden „die deutsche Wirtschaft im Mark treffen“, sagte Merz. Am Zolldeal der EU mit den USA wirkte Merz mit und erzielte ein passables Ergebnis. Sein Fazit: „Das ist kein guter Deal – aber ein notwendiger.“ 

Die Schweizer etwa müssen mit einem Zoll von 39 Prozent leben, während Deutschland und die EU einen Zoll von 15 Prozent deutlich besser verhandelten.

Iran-Zitat, das nachhallt – und die Waffenwende

Für Irritationen sorgte Merz mit seiner Nahost-Politik. Seine Aussage, Israels Angriff auf iranische Atomanlagen sei „Drecksarbeit, die Israel für uns alle macht“, wurde von Kritikern als Zynismus gewertet. Merz verteidigte die Formulierung als Anerkennung für Israels Einsatz gegen eine ernsthafte Bedrohung. 

Kurz darauf die überraschende Kursänderung: Künftig soll es keine Rüstungslieferungen mehr geben, die im Gazastreifen eingesetzt werden könnten. Ein Kommunikationssieg für die Hamas. 

Merz nennt das „verantwortungsvoll“ – in Teilen seiner eigenen Union sorgt es für Zähneknirschen. Insbesondere die CSU rotierte und ließ verlauten: „Die CSU war nicht in diese Entscheidung eingebunden, wir halten das für fragwürdig“. 

Die Schadensbegrenzung wird Merz sicher noch länger beschäftigen und nach dem Schuldendeal im März verspielt Merz das wichtigste politische Kapital: Vertrauen.

Innenpolitik: Härte an den Grenzen, Streit im Plenum

Innenminister Alexander Dobrindt setzte noch in der ersten Amtswoche flächendeckende Grenzkontrollen durch – inklusive konsequenter Zurückweisungen. Für die Union ist das die versprochene „Asylwende“, für viele in der SPD ein Affront.

In der Sozialpolitik wurde der Umbau des Bürgergeldes zur neuen Grundsicherung angestoßen – mit mehr Pflichten und weniger Schonvermögen. Steuerlich profitieren vor allem Unternehmen: bessere Abschreibungsregeln, Stromsteuer-Entlastung in der Wirtschaft. Private warten auf spürbare Entlastungen. 

Und dann der peinliche Krach im Juli: Die Wahl von Brosius-Gersdorf als Verfassungsrichterin platzte, weil Unionsabgeordnete der SPD-Kandidatin die Stimme verweigerten. Ein Stresstest für das zerbrechlich Vertrauensverhältnis. Die relevante Frage in der Debatte, die aber nicht gestellt wurde lautet: Warum darf die 16-Prozent-SPD immer noch die Hälfte der Verfassungsrichter vorschlagen?

Finanzpolitik: Alles unter Vorbehalt

Finanzminister Lars Klingbeil lieferte im Rekordtempo einen Haushalt für 2025 und brachte den Haushalt 2026 im Kabinett ein – flankiert vom Milliarden-Sondervermögen. Fast alle Vorhaben stehen unter Finanzierungsvorbehalt, der in den Koalitionsvertrag hinein geschrieben wurde. 

Selbst beim Investitionsbooster, der Steuern senkt und Genehmigungen beschleunigt, ist klar: Der Geldhahn wird angesichts der wirtschaftlichen Lage nicht sprudeln.

Migration als Markenkern – mit Ablaufdatum?

Begrenzung, Zurückweisung, Rückführung – Merz’ Migrationspolitik ist eindeutig. Offiziell sind die Zahlen irregulärer Einreisen bereits deutlich gesunken. Gleichzeitig wirbt die Regierung um Fachkräfte und beschleunigt Integrationsangebote für gut integrierte Geduldete. 

Doch der harte Kurs könnte an den EU-Regeln scheitern: Dauerhafte Zurückweisungen an Binnengrenzen sind europarechtlich kaum haltbar. Ohne Brüsseler Rückendeckung droht hier der Rückwärtsgang. Ein kürzlich ergangenes Urteil des Europäischen Gerichtshof zu „Sicheren Herkunftsländern“ wird Zurückführungen nicht erleichtern.

Klimapolitik: Nebensache mit Nebenwirkungen

Klimaziele bleiben auf dem Papier, der Fokus liegt auf Technologieoffenheit und CO₂-Bepreisung statt Verboten. Hier wird deutlich weniger Aktionismus gezeigt als bei der Ampel. Der Ausbau der Erneuerbaren tritt auf der Stelle, fossile Kapazitäten laufen weiter. Kritiker warnen: So könnte Deutschland seine EU-Vorgaben verpassen.

In 100 Tagen hat die Regierung Merz einiges auf den Weg gebracht: Schuldenbremse geändert, Investitionspakete, restriktivere Migrationspolitik, außenpolitische Präsenz.

Doch die Nebenwirkungen sind unübersehbar: interne Machtspiele, offene Finanzierungsfragen, Umfrageverluste: der aktuelle Deutschlandtrend bescheinigt dem Kanzler nur eine geringe Krisenkompetenz. 

Merz regiert zunehmend beratungsresistent

Und nur 29 Prozent der Befragten im Deutschlandtrend sagen, dass sie mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden sind - das sind zehn Punkte weniger als im Juli. In den Umfragen sitzt der Union die AfD im Nacken. 

Die SPD verharrt im Tief: Die Umfragen geben ihr mit 13 Prozent noch schlechtere Werte als bei der Bundestagswahl (16,4 Prozent). Der politische Honeymoon ist vorbei. 

Merz regiert zunehmend beratungsresistent: Einsame Entscheidungen, in denen er nicht den innerparteilichen Konsens sucht (Verfassungsrichterwahl, Waffenlieferungen an Israel), fliegen ihm um die Ohren. 

Mit dem Versprechen von Merz in seiner Regierungserklärung am 6. Mai: „Schon im Sommer sollen die Menschen spüren, dass es ihnen besser geht“, hat er sich weit aus dem Fenster gelehnt. Aber der Sommer dauert ja noch.

Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.