Auf russischem Gebiet - Verliert Ukraine wichtigstes Faustpfand? „Wir sehen letzte Phase im Kampf um Kursk“

Eigentlich sollte er Kiews wichtigstes Faustpfand am Verhandlungstisch sein: der besetzte Teil der russischen Grenzregion Kursk.

Ein Gebiet, das die ukrainische Armee im vergangenen Sommer völlig überraschend eroberte und von dem sie bis vor kurzem noch rund 420 Quadratkilometer hielt. Ein Gebiet, das die Truppen von Kremlchef Wladimir Putin trotz Unterstützung durch nordkoreanische Kämpfer monatelang nicht zurückerobern konnten.

Es sollte den Ukrainern als Pufferzone zur eigenen Grenzregion Sumy dienen, aber eben auch als potenzielle Tauschmasse bei möglichen Friedensgesprächen: Am Ende, so das Kalkül Kiew, würde man Kursk hergeben – und dafür ein eigenes, von Russland besetztes Gebiet zurückbekommen.

Doch dazu wird es allem Anschein nach nicht kommen. Denn die Lage in Kursk hat sich aus ukrainischer Sicht in den vergangenen Tagen dramatisch verschlechtert. Und das ausgerechnet kurz bevor an diesem Dienstag eine ukrainische und eine US-Delegation für Gespräche über ein Kriegsende in Saudi-Arabien zusammenkommen.

Erst meldete Russlands Armee am Wochenende die Rückeroberung der Orte Wiktorowka, Nikolajewka und Staraja Sorotschina, dann die der Dörfer Malaja Loknia, Tscherkasskoje Poretschnoje und Kosiza.

Zumindest den spektakulärsten Angriffsversuch – russische Soldaten sollen durch eine stillgelegte Gaspipeline geklettert sein, um die Kleinstadt Sudscha zu stürmen – wehrten die Ukrainer laut eigenen Angaben ab.

Doch damit nicht genug. Das ukrainische Fernsehen berichtete am Sonntag unter Berufung auf eigene Soldaten, dass deren gesamten Nachschubwege blockiert seien. Rund 1000 ukrainische Kämpfer sollen zudem akut von der Einkesselung bedroht sein.

Russischer Vorstoß begann vor einem Monat

Man könne die Lage kaum überdramatisieren, sagt Militärexperte Markus Reisner. „Wir sehen gerade die letzte Phase des Kampfes um die Region Kursk“, sagt er dem Tagesspiegel.

„Damit die ukrainische Armee hier noch einmal die Oberhand gewinnt, müsste sie die vorrückenden russischen Verbände umfangreich angreifen. Aber das ist momentan ausgeschlossen – nicht zuletzt, weil die USA den Ukrainern die militärische Unterstützung verwehren.“

  • Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer leitet das Institut für Offiziersausbildung der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Zudem beobachtet und analysiert er Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Für Reisner, der Offizier des österreichischen Bundesheeres ist, kommt die aktuelle Entwicklung wenig überraschend. „Bereits vor rund einem Monat hat die Situation begonnen, sich zum Nachteil der Ukrainer zu verändern“, erklärt er.

„Damals ist es den Russen mithilfe von Kampf- und Aufklärungsdrohnen gelungen, eine wichtige Nachschubroute nach Sudscha – die Stadt ist der zentrale Ort auf der Versorgungsroute für die ukrainischen Verbände – unter ihre Kontrolle zu bekommen. Damit war klar, dass die Situation sich relativ schnell zu Ungunsten der Ukraine verändern wird.“

Parallel dazu hätte die russische Seite damals mit größeren Kräften begonnen, die Flanken des ukrainischen Frontvorsprungs zu attackieren.

„Mittlerweile ist von rund 420 Quadratkilometern, die die Ukrainer bis vor wenigen Monaten in Kursk besetzten, nur noch etwa die Hälfte unter ihrer Kontrolle, weil die Russen den Nordteil des Kessels zum Kollabieren gebracht haben und die Ukrainer sich bis auf die Höhe Sudschas zurückziehen mussten“, sagt Reisner. „Nun laufen sie Gefahr, hier eingekesselt zu werden.“

Ukraine fehlen auch US-Geheimdienstinformationen

Ist der Kollaps der ukrainischen Front in Kursk auch eine Folge davon, dass die USA vor wenigen Tagen die Weitergabe von Geheimdienstinformationen an Kiew stoppten? Das glaubt Markus Reisner nicht: „Diese Maßnahme hat nicht sofort unmittelbare Auswirkungen auf das Frontgeschehen“, sagt er.

Auf längere Sicht jedoch seien die Folgen gravierend, weil die Ukrainer Ziele wie russische Gefechtsstände, Logistik, Knotenpunkte und Versorgungsdepots nicht mehr identifizieren und angreifen können, betont er.

„Mittel- und langfristig ist das fatal“, sagt Reisner – und fügt hinzu: „Die wenigsten von uns haben eine Vorstellung davon, wie umfassend die Unterstützung der USA bei der Übermittlung von Geheimdienstinformationen war.“

Er ist sich sicher: „Die Weitergabe von US-Geheimdienstinformationen ist eine der wesentlichen Gründe, warum die Ukraine überhaupt so lange durchhalten konnte.“

Nimmt Trump seine Entscheidung zurück?

Immerhin: Mittlerweile hat US-Präsident Donald Trump angekündigt, dass er seine Entscheidung wieder zurücknehmen könnte. Seine Regierung sei „kurz davor“, den Austausch von Geheimdienstinformation mit Kiew wieder aufzunehmen, verkündete Trump am Sonntag.

Möglich wäre, dass es dazu im Rahmen des Treffens am Dienstag in Saudi-Arabien kommt.

Sollte eine Wiederaufnahme des Geheimdienstaustauschs tatsächlich zur Debatte stehen, ist allerdings davon auszugehen, dass Trump das an Zugeständnisse der Ukraine knüpft – beim von ihm gewünschten Rohstoffdeal, aber auch bei Verhandlungen um ein Kriegsende.

Auch Militärexperte und Historiker Reisner sagt: „Trump wendet gerade das Prinzip Zuckerbrot und Peitsche an, um die Ukraine zu zwingen, den Verhandlungsvorgaben der USA Folge zu leisten.“

Ukrainer geben Hoffnung nicht auf

In der Ukraine geben sich viele derweil zuversichtlich – selbst für den Fall, dass die US-Nachrichtendienste weiter schweigen.

Oleh Katkow etwa, Chefredakteur des Mediums „Defense Express“, erklärte im Interview mit dem Fernsehsender Suspilne TV, dass Frankreich der Ukraine bereits nachrichtendienstliche Unterstützung leiste. Darüber hinaus kaufe Kyjiw bei verschiedenen Anbietern Satellitenbilder ein.

"Die Führung in Kiew kann sich nicht hinstellen und erklären, was nun alles nicht mehr funktioniert. Sie muss immerhin die Moral der eigenen Truppe hochhalten" Markus Reisner, Militäranalyst

Ähnlich äußerte sich auch ehemalige Sprecher des ukrainischen Generalstabs, Wladyslaw Selesnjow, im Radio. Und Wadym Skybyzkyj, Vize-Chef des Militärgeheimdienstes HUR, betonte gegenüber dem Portal „RBK Ukrajina“, dass sein Land Nato-Standards anwende und deshalb auch ohne US-Hilfe militärische Ziele identifizieren und anvisieren könne.

Markus Reisner ist deutlich weniger optimistisch. „Man darf es der Ukraine nicht vorwerfen, wenn sie die Auswirkungen nun kleinredet“, meint der österreichische Beobachter. „Die Führung in Kyjiw kann sich nicht hinstellen und erklären, was jetzt alles nicht mehr funktioniert. Sie muss immerhin die Moral der eigenen Truppe hochhalten.“

Er selbst ist jedoch überzeugt: „Das Tragische ist, dass die Europäer nur in sehr geringem Umfang in der Lage sind, das zu kompensieren, was die USA bislang geleistet haben.“ Kyjiw könne nun nur hoffen, dass Washington ihnen nicht auch noch das Satellitensystem Starlink abschalte.

Von Hannah Wagner, Yulia Valova