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"Verstehen. Kein Verständnis. Anmerkungen eines Enkels" von Dominik von Ribbentrop
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch "Verstehen. Kein Verständnis. Anmerkungen eines Enkels" von Dominik von Ribbentrop. Es erschien am 25. August im Westend Verlag.
Dass es eine Verbindung zum Dritten Reich gibt, habe ich irgendwie, irgendwann realisiert. Ein bewusstes Verstehen, eine Einordnung, eine Bewertung war das aber nicht. Sonst hätte ich eine konkrete Erinnerung daran.
Nicht zuletzt, weil mein Vater Adolf heißt, bekam ich früh mit, dass sein Patenonkel Adolf Hitler der Chef meines Großvaters war. Da ist sie, die Verbindung – doch das war es dann auch schon. Ein bewusstes Wahrnehmen geschah erst in der Schule, in der 9. Klasse, als wir in Geschichte den Nationalsozialismus durchnahmen.
Der Hitler-Stalin-Pakt, oder auch Molotow-Ribbentrop-Pakt genannt, war ein zentrales Ereignis in den Tagen vor Kriegsbeginn 1939. So ziemlich jedes Geschichtsbuch über die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg enthält ein Foto von dem zufrieden dreinblickenden Josef Stalin, seinem Außenminister Wjatscheslaw Molotow – und meinem Großvater.
Ich kann mich erinnern, dass ich damals in der Schule das unwohle Gefühl hatte, wegen meines Namens alles bis ins kleinste Detail wissen zu müssen, doch viel zu wenig wusste. Damals entstand das Bedürfnis, verstehen zu wollen.
Als Enkel des NS-Botschafters und Außenministers Joachim von Ribbentrop bin ich sozusagen per Geburt und ohne gefragt zu werden mit der deutschen Geschichte, dem Zweiten Weltkrieg und der Schoa verbunden. Da komme ich nicht mehr raus. Meine Kinder auch nicht. Eigentlich sind wir Deutschen alle mit diesem Kapitel unserer Geschichte infiziert. Dafür können wir Nachgeborenen nichts – dafür, wie wir damit umgehen, aber schon.
Auch wenn es "nur" zwölf Jahre waren, eine relativ kurze Zeitspanne, so überwältigend und allgegenwärtig – und sicherlich kein "Vogelschiss" – ist dieser Abschnitt und wird es, ob wir wollen oder nicht, noch lange sein. Regelmäßig erleben wir irgendwo im Alltag oder in den Medien, wie die Jahre der selbst gewählten Diktatur im Hintergrund politischer Diskurse drohend wachen und bei uns zu einer Verklemmtheit führen, über die sich Menschen aus anderen Ländern oft wundern.
Deren Ursprung ist nach meinem Empfinden das gesamtgesellschaftliche Trauma, dass wir Deutsche seit 1945 mit einer gebrochenen Identität leben. Zu tief sitzt die Scham, viele fühlen sich noch immer schuldig und können mit ihrem Land nichts anfangen. Andere empfinden Heimatgefühle, sind aber verunsichert, ob sie das überhaupt dürfen oder ob das schon ein verächtlicher Nationalismus ist.
Aus dieser Unsicherheit und mangelnder Identität resultieren meiner Meinung nach heute eine erneut ideologisierte Politik und immer wieder Versuche, nun endlich "radikal gut" zu sein – als Antwort auf das radikal Böse der Jahre 1933 bis 1945.
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"Verstehen. Kein Verständnis. Anmerkungen eines Enkels" von Dominik von Ribbentrop
Ideologien mögen das Herz erwärmen, taugen aber kaum dazu, eine Gesellschaft langfristig gut zu leiten und gedeihen zu lassen. Dafür können sie gewaltige Kräfte freisetzen und suchende Gemeinschaften zusammenschweißen. So erlebte es Deutschland mit Hitler und seiner Idee eines nationalen Sozialismus. Ideologie plus autokratischer Führer waren damals – kurzfristig – Fortschritt auf Steroiden. Da konnte eine pluralistische Demokratie nicht mithalten.
Wäre es heute wieder möglich, dass eine solche Ideologie die Mehrheit der Wähler beeindruckt? Sind wir in Deutschland, und auch weltweit, so viel reifer, gefestigter und demokratiemündiger als vor 100 Jahren? Wiederholt sich die Geschichte? Wie könnten wir eine erneute Fehlentwicklung samt nachfolgendem Absturz frühzeitig erkennen?
Da die Erinnerungen an den Nationalsozialismus allmählich verblassen und alle Zeitzeugen bald gestorben sein werden, droht erneut der Wahnsinn von Ideologien, Dominanzstreben und Nationalismen sein Haupt zu erheben. Nicht nur bei uns in Europa, sondern überall, wo Menschen wirken.
Eine Konsequenz des Zweiten Weltkrieges war die außergewöhnliche Situation, die Deutschland und das westliche Europa nach dem Krieg in Sicherheit wog. Der Schutz durch die Vereinigten Staaten führte dazu, dass zahlreiche militärische und damit auch politische Themen größtenteils outgesourct wurden.
Dadurch konnten wir Deutschen unsere Energie nach 1945 in den Wiederaufbau, in Forschung und Entwicklung sowie in die Wirtschaft stecken – und das mit beeindruckender Effektivität und Disziplin.
Mit Sicherheit hatten wir, in Deutschland und Westeuropa, großes Glück, zwischen 1950 und heute zu leben – eine außergewöhnliche Phase des Friedens und damit der Unbeschwertheit für uns Kinder des letzten Jahrhunderts.
Es ging eigentlich immer bergauf, wir genossen Sicherheit und Wohlstand. Allmählich dämmert uns, dass diese Friedensphase möglicherweise nur eine glückliche Ausnahme war und keine Selbstverständlichkeit. Sind wir nun gewappnet für die brutalen Realitäten des Weltenkampfs?
Heute sehe ich Tendenzen, diese der Geschichte hart abgetrotzten Freiheiten allzu leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der lange Zeitabschnitt von Stabilität, Frieden und Wohlstand zu Ende geht. Wir, zumindest in Deutschland und auch Europa, sind schon mitten drin im selbst gewählten – und unnötigen – Abstieg.
Wenn es uns nicht gelingt, wieder ein positives Verhältnis zu unserer Geschichte, zu unserer humanistischen Kultur zu finden, werden wir die keineswegs selbstverständlichen Errungenschaften unserer modernen demokratischen Gesellschaft verlieren.
In meiner Schulzeit beschloss ich jedenfalls, den Dingen so gut wie möglich auf den Grund zu gehen und zu verstehen, wie "das alles" möglich gewesen war: wie es dazu kommen konnte, dass mein Großvater, ein doch recht etablierter Unternehmer und Familienvater, einen schicksalhaften Pivot vollzog, sich Adolf Hitler, dem in seinen Augen einzigen möglichen Retter für Deutschland, anschloss, dessen außenpolitischer Berater wurde und ihm bis zum Ende treu blieb.
Ich wollte verstehen, warum die Abgeordneten der Weimarer Republik die parlamentarische Demokratie abgelehnt und für eine Diktatur gestimmt hatten. Ich wollte verstehen, weshalb Hitler in den ersten Jahren seiner Regierungszeit so erfolgreich gewesen war, dass eine Mehrheit der Bevölkerung, wenn nicht zu Nazis, so zumindest zu Hitler-Groupies konvertierten und ihm später bedingungslos glaubten und folgten.
Ich wollte verstehen, warum der Westen Hitler so lange hatte gewähren lassen und auch wie Stalin für Hitler innerhalb von wenigen Monaten vom Todfeind zum Bündnispartner werden konnte. Schließlich wollte ich verstehen, welche Rolle mein Großvater bei all dem gespielt hatte, wo er sich überhaupt einbringen konnte und warum er nicht zurücktrat, als seine Politik in Scherben lag.
Je mehr man weiß, desto weniger unheimlich werden die Dinge. Dieses Buch ist der Versuch, mich einer nie mehr auffindbaren Wahrheit anzunähern. Eines muss ich aber gleich vorwegschicken. Sie werden kein Buch eines Enkels lesen nach dem Motto: "Hilfe, mein Opa war ein Nazi und das hat es mit mir gemacht." Nabelschau und Betroffenheitsprosa sind nicht mein Ding. Ich fühle mich nicht traumatisiert.
Meinen Großvater habe ich nie kennengelernt. Für mich ist er eine historische Person. Allerdings sehe ich viel Traumatisierung um mich herum, in der Gesellschaft, in den Medien, besonders in der Politik. Auch diesem Phänomen will ich nachgehen.
Eine weitere Sache möchte ich außerdem klarstellen, und zwar, dass ich die Handlungen meines Großvaters weder rechtfertigen noch entschuldigen werde. Ich versuche, ihn in seiner Zeit, in seinem Denken, in seinem Handeln zu verstehen.
Vermutlich stellen sich viele die Frage, warum ihre Verwandten damals so dachten, wie sie dachten, und so handelten, wie sie handelten. Verstehen und Verständnis sind grundlegend verschiedene Dinge!
Das schreibe ich so explizit – und so lautet auch der Titel dieses Buches –, weil ich immer wieder erleben muss, dass mir aufgrund meiner Verwandtschaft automatisch unterstellt wird, meinen Großvater entschuldigen zu wollen, dass ich mich davon gar nicht frei machen könne und dass das eben ganz sicher der Fall sei, ob ich nun möchte oder nicht.