„Man sieht es dir an“ – warum Face Reading nichts als Täuschung ist
Die Idee, Persönlichkeit im Gesicht „lesen“ zu können, ist uralt. Aristoteles spekulierte über Zusammenhänge von Aussehen und Charakter, Johann Caspar Lavater machte die Physiognomik im 18. Jahrhundert populär, und bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde sie ernsthaft diskutiert. Doch schon Ende des 19. Jahrhunderts war klar: Face Reading ist keine Wissenschaft, sondern eine Pseudowissenschaft.
Heute erlebt es eine Renaissance, nicht zuletzt in Coaching, Business oder gar in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz. Doch wissenschaftlich bleibt es wertlos.
Warum Face Reading problematisch ist
- Keine belastbaren Belege: Gesichtsform und Charaktereigenschaften zeigen keine stabilen, reproduzierbaren Zusammenhänge.
- Gesichter sind veränderlich: Alter, Gesundheit, Emotionen verändern das Erscheinungsbild.
- Stereotype dominieren: Wir interpretieren Gesichter durch unsere kulturellen Brillen („harte Züge = streng“).
- Gefahr der Diskriminierung: Pseudowissenschaftliche Zuschreibungen befördern Vorurteile gegenüber Ethnien, Geschlechtern und Altersgruppen.
Joern Kettler ist Wirtschaftspsychologe, Mimik-Analyst und Bestsellerautor. Als Körpersprachen- und Lügenexperte begeistert er seit über 25 Jahren mit präzisen Analysen und klaren Botschaften. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Warum Menschen trotzdem daran glauben – die psychologischen Effekte
1. Kognitive Vereinfachung
Das menschliche Gehirn liebt Abkürzungen. Statt komplexe Informationen mühsam zu verarbeiten, greifen wir zu Heuristiken: ein Blick, ein Urteil. Face Reading liefert einfache Schubladen, „dominant“, „sanft“, „unzuverlässig“ und reduziert damit die Komplexität sozialer Interaktion. Diese Vereinfachung ist psychologisch bequem, aber wissenschaftlich falsch.
2. Der Barnum-Effekt
Der Barnum-Effekt beschreibt das Phänomen, dass Menschen vage, allgemeine Aussagen („Sie wirken ernsthaft, aber haben auch eine weiche Seite“) als individuell zutreffend erleben. Horoskope, Wahrsager und eben auch Face Reading nutzen diesen Effekt, um Treffsicherheit vorzutäuschen. Die „Lesung“ wirkt beeindruckend – doch in Wirklichkeit erkennt sich fast jeder in solchen Formulierungen wieder.
3. Wunsch nach Kontrolle
In einer unübersichtlichen Welt sehnen wir uns nach Sicherheit und Vorhersagbarkeit. Face Reading suggeriert, andere Menschen „lesen“ zu können, bevor sie handeln. Diese Illusion von Kontrolle befriedigt ein tiefes psychologisches Bedürfnis – gerade in Bereichen wie Personalführung oder Partnersuche. Doch es ist eine gefährliche Scheinsicherheit.
4. Soziale Bestätigung
Wenn jemand sagt „Der sieht dominant aus“, und andere zustimmen, verstärkt das den Glauben an die Aussage. Soziale Rückversicherung sorgt dafür, dass auch falsche Annahmen plausibel wirken. Dieser Effekt erklärt, warum Face Reading in Gruppen, Seminaren oder Coachings so überzeugend erscheinen kann – die Zustimmung der Gruppe wirkt stärker als kritische Reflexion.
Missbrauch durch Coaches und Berater
Genau diese Effekte werden von selbsternannten Experten systematisch genutzt. In Seminaren oder Beratungen wird Face Reading als „geheimes Wissen“ verkauft. Die Mechanismen sind durchschaubar:
- Barnum-Effekt: Jede Deutung wirkt individuell.
- Kognitive Vereinfachung: Komplexität wird in einfache Schubladen gepresst.
- Wunsch nach Kontrolle: Kunden fühlen sich sicherer im Umgang mit anderen.
- Soziale Bestätigung: Gruppenreaktionen verstärken den Eindruck, dass das System funktioniert.
So entsteht eine Illusion von Wissenschaftlichkeit, die mit teuren Honoraren bezahlt wird, in Wahrheit handelt es sich um eine raffinierte Verkaufsstrategie, nicht um fundierte Psychologie.

Was Gesichter tatsächlich verraten
Das Einzige, was empirisch belastbar im Gesicht erkennbar ist, sind Emotionen.
Das Facial Action Coding System (FACS) von Paul Ekman und Wallace Friesen klassifiziert kleinste Muskelbewegungen in „Action Units“. Damit lassen sich Basisemotionen wie Freude, Angst, Ärger, Trauer, Ekel und Überraschung erkennen, teilweise sogar Mischungen wie die „Feindseligkeitstriade“ – bestehend aus Ärger, Ekel und Verachtung.
Doch auch hier gilt: FACS zeigt momentane Zustände, nicht stabile Persönlichkeitsmerkmale. Es wird jedoch in Verhör Methodiken und vielen anderen Bereichen aktiv und sehr erfolgreich eingesetzt.
Fazit
Face Reading ist eine psychologisch verführerische, aber wissenschaftlich wertlose Praxis. Es ist ein Spiel mit Täuschungsmechanismen:
Wissenschaftliche Studien von klassischen Arbeiten bis zu modernen KI-Analysen, zeigen übereinstimmend: Physiognomik ist Pseudowissenschaft. Sie erklärt mehr über unsere Vorurteile als über die Menschen, die wir betrachten.
Wer Menschen wirklich verstehen will, braucht andere Werkzeuge: Empathie, aktives Zuhören, Kontextwissen. Alles andere bleibt: Hokuspokus im alten oder digitalen Gewand.