„Blaumachen viel zu einfach“ - Weniger Lohn bei Krankheit? Experten warnen – was Sie wissen müssen

Rainer Dulger stören die 77 Milliarden Euro, die Deutschland jährlich für Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall ausgibt. Das sei mehr als der Verteidigungshaushalt und auch mehr als alle Ausgaben der Pflegeversicherung, rechnet der Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Er spricht in der "FAZ" von einer „von den Arbeitgebern allein finanzierten Sozialleistung“. Deren Kosten müssen dringend sinken. 

Nun hat der BDA in einem 13-seitigen Papier Forderungen zusammengeschrieben, die alle auf das gleiche Ziel hinauslaufen: Kranke Angestellte sollen weniger Geld erhalten. Deutschland mache es „Blaumachern viel zu einfach“, schreiben die Arbeitgeber.

Die Forderungen: Weniger Geld für Kranke

Die wichtigsten Punkte des Papiers, das FOCUS online vorliegt:

  • Lohnfortzahlung auf sechs Wochen im Jahr begrenzen statt auf sechs Wochen pro Krankheit.
  • Alternativ: Kranken Angestellten nur noch 80 Prozent des Lohns zahlen.
  • Alternativ: der bereits besprochene Karenztag. Dies hatte Anfang Januar bereits Allianz-Chef Oliver Bäte gefordert.
  • Keine Krankschreibungen mehr ohne Arztkontakt, etwa nur durch ein Telefonat mit einem Arzthelfer oder per Internet.

Der Hintergrund: Deutsche laut einigen Statistiken häufiger krank

Hintergrund des Arbeitgebervorstoßes ist:

  • Die Menschen in Deutschland sind laut einigen Statistiken deutlich länger krank als in den meisten anderen Ländern: um 20 bis 25 Tage, je nach Statistik.
  • Die Arbeitgeber sehen darin ein Indiz, dass sich die Menschen in Deutschland häufiger krankmelden, obwohl sie arbeiten könnten. Sie verweisen auf eine Umfrage, laut der 60 Prozent der Teilnehmer selbst bei leichten Symptomen nicht arbeiten.
  • Krankmacherei schade der Wirtschaft in Zeiten teurer Energie zusätzlich. Dulger: „Steigende Kosten für Lohnfortzahlungen sind ein erheblicher Ballast, der den Weg raus aus der Rezession erschwert.“ Man könnte es auch so sagen: Länder mit weniger wehleidigen und schauspielernden Angestellten hätten einen Standortvorteil, meinen die Arbeitgeber.
  • Die Regierung müsse gegensteuern: Leistungen abbauen und die Angestellten zu mehr Arbeit zwingen.

Kritiker: Durch harte Maßnahmen womöglich mehr Krankmeldungen

Kritiker des Arbeitgeber-Vorstoßes sagen: Die Angestellten in Deutschland jammern nicht. Und harte Maßnahmen richten mehr Schaden als Nutzen an. Doch der Reihe nach:

1. Womöglich sind die Deutschen gar nicht so oft krank

  • In vielen anderen Ländern erfassten die Statistiken Fehltage längst nicht so zuverlässig wie in der Bundesrepublik. Womöglich bleiben Menschen auch mal ohne Krankschreibung zu Hause, ohne dass sich deswegen jemand etwas dabei denkt.
  • Hierzulande zählen die Statistiken seit Einführung der Elektronischen Krankschreibung deutlich mehr Fehltage, weil diese Fehlende zuverlässiger erfasst. Auch dies deutet darauf hin, dass Länder ohne elektronische Krankschreibung die Fehldaten unzuverlässiger zählen.
  • Einige Statistiken nennen zudem für Deutschland weniger Krankheitstage. Das Statistische Bundesamt spricht etwa von nur 15 Fehltagen für 2023. Die Krankenkassen sehen im gleichen Zeitraum sieben Tage mehr. Die statistische Grundlage ist also uneindeutig.

2. Scharfe Regeln führen womöglich zu mehr Fehltagen

Die Arbeitgeber behaupten in ihrem Papier: „Sinkt die Lohnersatzrate von 100 auf 80 Prozent, würden gemäß diesen Studien die Fehlzeiten im Mittel auch um etwa 20 Prozent sinken.“ Experten bezweifeln diese Aussage.

  • Erfahrungen aus Ländern wie Schweden und Spanien zeigen, dass Menschen bei strengeren Regeln häufiger eingeschränkt arbeitsfähig zum Job gehen, sagt Nicolas Ziebarth vom ZEW – Leibniz Centre for European Economic Research.
  • Dadurch steigt die Zahl der Arbeitsunfälle, die Produktivität sinkt und die Arbeitszufriedenheit leidet.
  • Ähnlich argumentiert Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK: „Kommen Menschen krank zur Arbeit, ist die Gefahr hoch, dass sie ihre Kolleginnen und Kollegen anstecken.“ Hinzu komme die Gefahr langfristig schwerer Krankheiten, wenn sich Menschen nicht auskurieren. Auch dadurch drohten mehr Krankheitstage.
  • In Schweden stieg die Zahl der Krankheitstage um drei Prozent, als der Karenztag eingeführt wurde. In Spanien sank der Krankenstand zwar etwas, als die Regierung die Lohnzahlungen für Kranke senkte. Dafür stieg die Zahl der Unfälle.
  • Für Deutschland erwartet kein Experte einen entscheidenden Rückgang der Krankheitstage, falls die Regierung die Lohnfortzahlung anpasst. Womöglich sinken sie etwas, womöglich steigen sie. Womöglich bleiben sie gleich.

3. Arbeitgeber sparen wohl weniger als erhofft

Änderungen an der Krankschreibung dürften den Arbeitgebern wohl deutlich weniger Geld sparen, als es der genannte 77-Milliarden-Euro-Betrag vermuten lässt. Einerseits würden sich die Arbeitgeber mit keinem ihrer Ansätze alle Kosten sparen, sondern nur einen geringen Teil. Andererseits müssen die Arbeitgeber selbst einen Teil der Einsparungen auf anderem Weg doch bezahlen:

  • Die Arbeitgebervorschläge gleichen faktisch einer Gehaltskürzung: Am Ende des Jahres haben viele Angestellte weniger verdient.
  • Diese Angestellten wollen den Verlust ausgleichen: Sie fordern künftig mehr Gehalt.
  • Ziebarth schätzt, dass auf diesem Weg rund die Hälfte der Kosten wieder bei den Arbeitgebern landet. Sie zahlen den Angestellten mehr Grundgehalt, behalten bei Krankheiten aber etwas ein.
  • Die Änderung betrifft also eher die Angestellten: Gesunden Beschäftigten bleibt womöglich etwas mehr Geld, kranken Beschäftigten weniger.

Die Einsparungen dürften also eher bei einigen Milliarden Euro im Jahr liegen. Die gesamten Lohnkosten in Deutschland gehen in die Billionen. Besser als nichts, aber wenig im Vergleich zu Energiekosten und steigenden Lohnnebenkosten wie Rentenbeiträgen.

Auf ein anderes Szenario verweist Joachim Ragnitz, stellvertretender Leiter der ifo Niederlassung Dresden: Zahlen die Arbeitgeber im Krankheitsfall weniger oder nichts, könnten die Krankenkassen einspringen. Dafür müssten aber die Krankenkassenbeiträge steigen. Die Hälfte zahlt der Arbeitgeber direkt. Die andere Hälfte dürften sich die Angestellten durch Lohnsteigerungen zurückholen wollen. Wieder bleiben wenige Einsparungen.

Ragnitz' Fazit: Für die Wirtschaft gebe es  "in der Tat wichtigere Themen als die Lohnfortzahlung".

4. Schaden für Geringverdiener, Pflege und Co.

Experten kritisieren auch soziale Folgen des Vorstoßes:

  • Geringverdiener leiden am stärksten: Die Vorschläge treffen die, die ohnehin schon wenig Geld verdienen, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele. Sie fühlten sich eher gezwungen, krank zur Arbeit zu gehen, als jemand, der einen Tag Verdienstausfall verkraften kann. „Wer krank ist, ist krank – und sollte auch nicht grübeln müssen, ob er sich das leisten kann.“
  • Schlecht für Pflege: Erhalten kranke Angestellte weniger Geld, leiden darunter besonders Menschen, die mit Kranken arbeiten und sich leichter anstecken, sagt Bentele: Pfleger, Ärzte und ähnlichen Branchen, in denen bereits jetzt viele Stellen leer stehen. Will die Politik wieder mehr Menschen motivieren, in diesen Jobs zu arbeiten, müsse sie an der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall festhalten.

Arbeitgeber sollen selbst mithelfen, Fehltage zu verringern

Zusammengefasst sagen Kritiker: Die Arbeitgeberideen bekämpfen ein womöglich nicht bestehendes Problem. Sie bringen wenig, schaffen aber Schwierigkeiten. 

Trotzdem sind sich alle einig: Weniger Fehltage helfen der Wirtschaft, dem Land und somit auch allen Angestellten. "Dass die Arbeitgeber nach Wegen zu suchen, die Arbeitskostenbelastung zu senken, ist natürlich verständlich", meint Ragnitz. Einige Vorschläge der Arbeitgeber unterstützen er und andere Experten - vor allem die Idee, Krankschreibungen über das Internet abzuschaffen. 

  • Anbieter bieten Fragebögen an, die jedem, der die richtigen Punkte auswählt, von der Arbeit freistellen.
  • 700.000 Mal im Jahr würden diese Dienste missbraucht, sagen die Arbeitgeber.
  • Auch Ärztekammern und das Europäische Verbraucherzentrum kritisieren die Dienste.
  • Diese Dienste einzuschränken dürfte mehrheitsfähig sein.

Ebenfalls helfen könnte eine Forderung des ZEW, auf die Ziebarth verweist: die Teilzeitkrankschreibung. Demnach müssten sich Angestellte nicht länger zwischen Arbeit und Krankmeldung entscheiden. Sie könnten, gerade bei leichten Problemen, einen Mittelweg gehen: weniger arbeiten. Im Idealfall steigen dadurch die Arbeitszeiten, ohne mehr Unfälle und langfristigen Ausfälle auszulösen.

Weitere Vorschläge Ziebarths lauten: 

  • Immer eine Krankschreibung ab dem ersten Fehltag verlangen.
  • Leistungsabhängige Prämien, die sich auch an der Zahl der Fehltage orientiert. Maschinenbauer Heidelberger Druck verloste laut „Rhein-Neckar-Zeitung“ 800 Euro netto unter allen Mitarbeitern ohne Krankentagen. Prämien motivieren stärker als Strafen, sagt Ziebarth.
  • Betriebliches Gesundheitsmanagement ausbauen: zum Beispiel barrierearme Grippe- und Covidimpfungen sowie Aufklärung anbieten.
  • Medizinischen Dienst der Krankenkassen bestellen.