Einst forderte er Merkel heraus, jetzt kämpft ein Unternehmer gegen den Mindestlohn

Andreas Ritzenhoff, Doktor der Medizin, hat es sogar mal bis in die „Washington Post“ geschafft. Das war 2018, als der Unternehmer aus dem hessischen Marburg gegen die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel um den CDU-Vorsitz kämpfte. Der damals 61-Jährige, den politisch niemand auf den Schirm hatte, ist einer jener erfolgreichen deutschen Mittelständler. 

Die nennen sich auch „hidden champions“ und stellen meist in einer klitzekleinen Nische ein Produkt her, das es so sonst nirgends gibt. Im Fall von Ritzenhoff sind es Aluminiumdesignverpackungen für die Kosmetikindustrie. Wer ein Dior-Parfüm benutzt, hält in der Regel auch ein Ritzenhoff-Produkt in der Hand.

Ritzenhoff fordert Aussetzung des Mindestlohns

Jetzt hat der Unternehmer einen Brief geschrieben, der eigentlich an die SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas, an CDU-Wirtschaftsministerin Katharina Reiche und an die für den Mittelstand zuständige Staatssekretärin Gitta Connemann gerichtet ist. Der Brief ist über Umwege auch bei „Business Punk“ gelandet. Es ist ein Antrag zur „Nicht-Inkraftsetzung des Mindestlohns“. Steigt dieser wie geplant ab 1. Januar 2026 in zwei Schritten auf 14,60 Euro, wäre das für mittelständische Unternehmen „existenzbedrohend“, schreibt Ritzenhoff. Er schlägt stattdessen vor, die Menschen im Niedriglohnsektor von Steuern und Abgaben zu entlasten und so deren Nettolohn anzuheben.

Sein Weckruf klingt so: „Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist außerordentlich angespannt mit einer erschreckend hohen Zahl von Unternehmensinsolvenzen, insbesondere im Mittelstand. Eine zusätzliche Kostenbelastung wird weitere Konkurse verursachen, noch mehr Arbeitsplätze vernichten, zu deutlichen Preissteigerungen führen. Anders als angestrebt, wird sich die Lage der Menschen im Niedriglohnbereich verschlechtern.“

Briefe, wie der des Unternehmers und IHK-Funktionärs, trudeln beinahe täglich in den Ministerien ein. Und manchmal gibt es vielleicht allenfalls eine Eingangsbestätigung. Ritzenhoffs Schreiben ist jedoch nicht nur wegen seines Absenders interessant. Er kommt auch haargenau in einer Phase, wo es wirklich fällig wäre, über die Erhöhung des Mindestlohns noch einmal nachzudenken.

Ökonomen sehen die Mindestlohnpläne kritisch

Zum einen hat das Statistische Bundesamt gerade in seiner Quartalsrechnung festgestellt, dass Deutschlands Wirtschaft wieder geschrumpft ist. Die Unternehmer investieren nur noch zögerlich, die Kunden bestellen nur noch, wenn sie müssen. Von Aufschwung keine Spur. 

Ökonomen raten davon ab, in dieser Phase die nächste Umverteilungsaktion zu starten. Clemens Fuest etwa, Chef des Ifo-Instituts sagt: „Die aktuelle Wirtschaftslage gibt eine Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro nicht her. Unsere Wirtschaftsleistung schrumpft seit zwei Jahren. Die durchschnittlichen Arbeitseinkommen steigen zwar, aber nicht annähernd im Umfang der geforderten Mindestlohnerhöhung." Die 15 Euro nannte er, weil dies das mittelfristige Ziel der SPD ist. Aber auch für 14,60 Euro dürfte seine Warnung gleichermaßen gelten.

Ehemals starke Mittelständler gehen insolvent

Zum anderen erreichen die Folgen des mangelnden Vertrauens in den Standort die Mittelständler gerade mit voller Wucht: So ist zum Beispiel das Ende der ae group aus dem thüringischen Gerstungen in Sicht. Der Mittelständler beliefert weltweit namhafte Automobilhersteller mit Auto-Bauteilen in Aluminium-Druckguss. Zum Beispiel Getriebegehäuse, Motorenkomponenten, Getriebesteuerungsteile und Batteriegehäuse. Es gibt drei Produktionsstandorte – der Hauptsitz liegt im thüringischen Gerstungen. 

Insgesamt beschäftigt das Unternehmen 1100 Mitarbeiter. Vergangenes Jahr lief es schon so bescheiden, dass die Gruppe die Insolvenz in Eigenverwaltung einleitete. Seit 1. August ist damit Schluss und die Anwältin Romy Metzger wurde zur Insolvenzverwalterin bestellt. Sie sagte jetzt: Es sehe alles eher nach „end“ als nach „happy end“ aus.

72 Prozent mehr Mindestlohn in zwölf Jahren

Angesichts solcher Fälle läuten nicht nur bei Ritzenhoff die Alarmglocken. Es gibt viele Unternehmer, die denken wie er, seit das für sich genommen schon zweifelhafte Gremium einer Mindestlohnkommission den Vorstellungen der schwarz-roten Regierung weitgehend gefolgt ist und eine zweistufige Erhöhung des Mindestlohns von derzeit 12,82 auf 14,60 Euro empfahl. Dass damit die Tarifautonomie in dieser Gehaltszone ausgehebelt ist, dass eine letztlich politisch unter Druck stehende „unabhängige“ Kommission Empfehlungen gibt, die niemand anders als die Unternehmer ausbaden müssen – Ritzenhoff kennt die Argumente und ahnt, dass sie nicht ziehen gegen die Behauptung der Befürworter, es gehe darum, Millionen von Menschen aus der Armut zu befreien. 

Stimmt das wirklich? Der Mindestlohn wurde in Deutschland im Jahr 2015 eingeführt, anfangs lag er bei 8,50 Euro. Er ist damit innerhalb von zwölf Jahren um satte 72 Prozent gestiegen. Das ist mehr als jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin an regulärer Lohnerhöhung durchsetzen konnte. Profitieren Millionen? Eher nicht, was daran liegt, dass die Deutschen in der ganz überwiegenden Mehrheit kein Volk von Mindestlohnempfängern sind. 

Steigende Stundenlöhne führen zu sinkender Arbeitszeit

Was der Mindestlohn wirklich bringt, dazu hat eine bundeseigene Informationsstelle für Mindestlohn eine Studie verfasst. Sie stellt fest, dass die Erhöhung der Mindestlöhne in der Vergangenheit nicht automatisch zu einer Erhöhung der Monatslöhne geführt habe, weil Arbeitgeber in der Regel die Arbeitszeit verkürzen, wenn sie mehr pro Stunde zahlen müssen. So kommt es, dass bei geringfügig Beschäftigten der Anstieg der Monatslöhne nur knapp die Hälfte von dem widerspiegelt, was sich durch den Anstieg der Mindestlöhne ohne Arbeitszeitverkürzung eigentlich ergeben müsste. 

Ganz unrecht ist das den Betroffenen oft auch nicht: Viele wollen als sogenannte Mini-Jobber abgabenfrei arbeiten, weswegen sie alles tun, um die dazu erforderliche Verdienstgrenze nicht zu überschreiten. So gesehen bringt eine Erhöhung des Mindestlohns in diesen Fällen keine Verbesserung des Monatslohns, sondern sorgt für eine Senkung der Arbeitszeit. Aber das lassen die Befürworter gern unter den Tisch fallen.

SPD-Chef Klingbeil hält an Mindestlohnplänen fest

Zudem erfüllt sich die Hoffnung, dass der Mindestlohn zu einem Rückgang der Anzahl der Empfängerinnen und Empfänger von staatlichen Zahlungen ohne Gegenleistung führen könnte, also vor allem von Bürgergeld, nicht: Die Ausgaben für Bürgergeldempfänger steigen in Deutschland kontinuierlich. Nach Einschätzung der Studienautoren liegt das auch daran, dass überhaupt nur rund drei Prozent aller Bürgergeldempfänger in Vollzeit beschäftigt sind und von einer Anhebung voll profitieren würden. Der Mindestlohn als Mittel, die Armut in Deutschland zu bekämpfen, sei ein Rezept, das nicht funktioniere, stellen die bundeseigenen Wissenschaftler fest.

Der Glaube, dass sein Brief irgendetwas am Mindestlohn ändert, dürfte aber auch Ritzenhoff schwerfallen. Denn schon in den Koalitionsverhandlungen machten die Sozialdemokraten eine absolut unzweideutige politische Forderung, nein Ansage: 15 Euro Mindestlohn! Und es war nicht irgendjemand, der das forderte, sondern der SPD-Chef, Vizekanzler und Finanzminister Lars Klingbeil selbst: Die Lohnuntergrenze von 15 Euro würde schon 2026 erreicht, jedenfalls dann „wenn die Mindestlohnkommission sich selbst ernst nimmt“. Dass es dann zu dem Kompromiss in zwei Schritten kam, mit 14,60 Euro als Zwischenstufe, war für Klingbeil schon schwer erträglich. Weiter nachgeben kann er mit Blick auf seine Partei sicher nicht.

Dieser Text erscheint in Kooperation mit Business Punk.