Erste Raketen treffen Energieinfrastruktur - Wie die Ukraine den Russen-Blackout in diesem Winter verhindern will
Eine derart massive Attacke wie in der Nacht auf den 17. November hatten die Menschen in der Ukraine schon lange erwartet. Mehr als zweieinhalb Monate waren zu diesem Zeitpunkt vergangen, seitdem Russland zum letzten Mal großflächig das ukrainische Energiesystem angegriffen hatte.
Die unerwartete Pause löste bei vielen eher Befürchtungen als Freude aus – und ließ sie fragen: Ist das die Ruhe vor dem Sturm?
Und sie sollten Recht behalten: Am 17. November – kurz vor dem 1000. Tag der Vollinvasion – ging ein groß angelegter Luftangriff auf das kriegsgeplagte Land nieder: Insgesamt 120 Raketen und 90 Drohnen feuerte Russlands Armee innerhalb von Stunden ab.
Ukrainer hoffen auf milden Winter
Die Ukrainer haben sich an dieses Muster bereits gewöhnt: Russland schlägt alle anderthalb bis zwei Monate auf das Energiesystem ein – immer dann, wenn seine Rüstungsindustrie eine ausreichende Menge an Raketen und Marschflugkörpern angesammelt hat.
Dass der dritte Kriegswinter extrem schwierig werden wird, bezweifelt kaum jemand. Optimistischen Prognosen der Regierung zufolge hat die Ukraine zwar durchaus eine Chance, große Stromausfälle zu vermeiden.
Allerdings nur, falls es ein warmer Winter wird – und falls Russlands Machthaber Wladimir Putin den Energiesektor nicht mehr im großen Stil angreifen lässt.
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Andernfalls werden die Menschen die Folgen zu spüren bekommen: Im bestmöglichen Fall fiele dann nur für wenige Stunden am Tag der Strom aus. Im schlimmeren Fall für bis zu 18 Stunden. Denn die ukrainische Energieversorgung ist durch die Angriffe stark geschwächt.
Laut Angaben des Energieministeriums ist das Energiesystem seit Beginn der russischen Vollinvasion landesweit bereits mehr als 1.000 Mal attackiert worden – sowohl das Stromübertragungsnetz als auch die Erzeugungsanlagen.
Allein in diesem Jahr wurden demnach 25 Wärme- und sieben Wasserkraftwerke getroffen. Infolgedessen hat die Ukraine neun Gigawatt ihrer Erzeugungskapazität verloren, das ist die Hälfte ihres maximalen Bedarfs.
„Die meisten Energieanlagen sind seit den 50er-, 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts in Betrieb. Mit jeder neuen Reparatur nimmt ihre Sicherheitsmarge ab.“
Zwar hat das Land seit Kriegsbeginn seine Erneuerbaren-Kapazitäten ausgebaut, im Sommer erreichten diese einen Stromversorgungsanteil von bis zu 18 Prozent. Der Kyjiwer Energie-Thinktank DiXi Group rechnet jedoch damit, dass die Erneuerbaren-Leistung – das meiste ist Photovoltaik – im Winter um 40 bis 70 Prozent sinkt.
Angeblich Geheimverhandlungen über Moratorium
Als die russischen Großangriffe auf Energieanlagen in den vergangenen Wochen zunächst ausblieben, kamen sofort Spekulationen auf. Angeblich hätten sich Moskau und Kyjiw auf ein Moratorium geeinigt, hieß es Medienberichten zufolge: Die Ukraine soll sich angeblich bereit erklärt haben, keine russischen Ölraffinerien mehr anzugreifen, Russland im Gegenzug seine Raketenangriffe auf den ukrainischen Energiesektor einstellen.
Die „Washington Post“ berichtete im Sommer, dass dies in geheimen, von Katar vermittelten Verhandlungen besprochen worden sei. Demnach wurden die Gespräche jedoch abgebrochen, als die ukrainische Armee Anfang August ihre Offensive in der russischen Grenzregion Kursk begann.
Viele Militärexperten waren sich jedoch einig, dass Russland lediglich Raketen hortete und auf kaltes Wetter wartete. Dann ist es für das Energiesystem schwieriger, die Folgen der Angriffe zu bewältigen.
Die ukrainische Energieinfrastruktur sei besonders anfällig, erklärt Andrian Prokip, der Leiter der Energieprogramme am Ukrainischen Zukunftsinstitut. „Die meisten Anlagen sind seit den 50er-, 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts in Betrieb. Mit jeder neuen Reparatur nimmt ihre Sicherheitsmarge ab.“ Eine weitere Reihe von Angriffen, insbesondere bei kaltem Wetter, würden sie wohl nicht überstehen, befürchtet Prokip.
Ukrainisches Energiesystem stabiler als 2022
Zumindest aber hat der ukrainische Energiesektor den Schlag vom 17. November überlebt. „Für einen so massiven Angriff sind die Folgen relativ gering – es könnte viel schlimmer sein“, sagt Prokip. Der Experte spricht den Energietechnikern Lob aus. Sie hätten im Herbst große Anstrengungen unternommen, um durch die Luftangriffe beschädigte Kraftwerke zu reparieren.
„Auch, wenn es den Russen gelungen ist, einige der Anlagen zu beschädigen, hat unser Energiesystem seine Funktionsfähigkeit bewahrt.“
In der besonders hart getroffenen Region um die Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer beispielsweise haben Stromtechniker nach Angaben des Energieversorgers DTEK nach dem Angriff vom 17. November die Stromversorgung von 714.000 Haushalten wiederhergestellt. Nichtsdestotrotz kommt es in der Region weiterhin zu Notabschaltungen.
Olena Lapenko, Sicherheitsexpertin bei der Denkfabrik DiXi Group, ist der Auffassung, dass das ukrainische Stromsystem heute widerstandsfähiger ist als im Herbst 2022. Damals kam es nach dem ersten großen Raketenangriff zu einem Blackout. Viele Regionen waren fast drei Tage lang ohne Strom, Kommunikation, Wasser und Wärme.
„Jetzt haben wir Stromgeneratoren und Reservestromquellen für Kesselhäuser“, sagt Lapenko. „Und auch, wenn es den Russen gelungen ist, einige der Anlagen zu beschädigen, hat unser Energiesystem seine Funktionsfähigkeit bewahrt.“ Lapenko räumt jedoch ein, dass mit dem Einsetzen des Frosts Ausfälle auch der Notstromversorgung kaum zu vermeiden sein werden.
Bislang hatte die Ukraine Glück mit dem Wetter: Der Oktober war außergewöhnlich warm. Daher war das Stromnetz nicht überlastet und es gab kaum Stromausfälle. Die Ukraine hat sogar nach 170 Tagen Pause wieder angefangen, Strom zu exportieren – wenn auch in sehr kleinen Mengen. Die Heizperiode hat im November begonnen und verlief bisher vielerorts reibungslos.
Importstrom aus der EU oft zu teuer
Nicht jedoch in den frontnahen Regionen: Dort ist die Situation deutlich dramatischer. In Charkiw in der Ostukraine etwa wurden im Frühjahr alle thermischen Kraftwerke zerstört, so dass die Stadt Strom aus anderen Regionen beziehen muss. Zudem stellt die Stadt jetzt mobile Kesselhäuser auf und baut Mini-Wärmekraftwerke.
Die Ukraine rechnet außerdem damit, dass sich ihre Importkapazität für Strom aus benachbarten EU-Ländern im Dezember von derzeit 1,76 Gigawatt auf 2,1 GW erhöhen wird. Das wären Lapenko zufolge immerhin zwölf Prozent des Bedarfs aus dem vergangenen Winter. Das Problem seien eher die Preise. In Spitzenzeiten, sagt Lapenko, seien die Preise für Energie aus der EU „derzeit einfach zu hoch“.
Auch der ukrainische Energiehändler D.Trading kommt zu der Einschätzung, dass Preise von 200 Euro pro Megawattstunde in den Nachbarländern einen Stromimport schlicht sinnlos machen: „Diese Preise liegen deutlich über den derzeitigen Grenzpreisen auf dem ukrainischen Strommarkt und erlauben keinen Stromimport zu Marktbedingungen.“
Kern des heimischen Stromversorgungssystems sind die drei unter ukrainischer Kontrolle verbliebenen Atomkraftwerke. Die neun Kraftwerksblöcke erzeugen bis zu 60 Prozent des gesamten Stroms. Doch: Um einen Reaktor auszuschalten, müsste Russland nicht einmal ein Kernkraftwerk direkt treffen, meint Andrian Prokip.
Dem Experten zufolge würde es genügen, Schäden an Umspannwerken zu verursachen, um ein Kernkraftwerk vom Netz abzuschneiden. Versucht hat Russland das in der Vergangenheit bereits.
Von Valeriia Semeniuk
Das Original zu diesem Beitrag „Erste Raketen treffen Energieinfrastruktur: Wie die Ukraine den Russen-Blackout im dritten Kriegswinter verhindern will" stammt von Tagesspiegel.