Russland ist der Ukraine im Krieg überlegen, selbst Hilfspakete scheinen nicht auszureichen. Laut einem Experten ist die Situation dramatisch.
Kiew - Mangel an Munition, an Soldaten, an Verteidigungsanlagen: Die Ukraine kämpft im Krieg gegen Russland mit immer mehr logistischen Baustellen. Das neue Hilfspaket aus den USA scheint zwar Abhilfe zu schaffen, aber nicht für einen entscheidenden Vorteil auszureichen. Der polnische Militärexperte und Direktor des unabhängigen Kriegsanalyse-Portals Rochan-Consulting, Konrad Muzyka, schätzt die Lage als die bislang vielleicht größte Bedrohung für die Ukraine ein.
Experte mit düsterer Prognose: „Ukraine hat die dunkelste Stunde noch nicht überstanden“
„Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Lage an der Front so schlecht ist wie seit März 2022 nicht mehr: Die zahlenmäßige Überlegenheit der Russen nimmt weiter zu, und auch die Zahl der Angriffe steigt“, resümierte Muzyka in einer Analyse, die am Montag (29. April) auf der Plattform X veröffentlicht wurde. Dabei seien die Hauptprobleme der Ukraine nicht neu. Es mangele weiterhin an Personal, Munition und an militärischen Stützpunkten im Krieg. „Die Ukraine hat die dunkelste Stunde noch nicht überstanden. Sie steht erst am Anfang.“
Um sich den ukrainischen Mangel an Artilleriemunition zu vergegenwärtigen, genüge es laut Muzyka zu erwähnen, dass es auf ukrainischer Seite Einheiten gibt, deren Ausgaben im Vergleich zum Sommer 2023 um 70 bis 90 Prozent zurückgegangen sind. Der Artilleriebeschuss sei an vielen Orten inzwischen auf ein Minimum beschränkt, nicht selten müsse er zunächst von Brigadekommandeuren genehmigt werden.
Russland setzt sich im Angriffskrieg gegen die Ukraine langsam durch – prekäre Lage an der Front
Unterdessen hat Russland in den vergangenen Wochen seine Luftangriffe auf ukrainische Ziele mit Raketen, Marschflugkörpern, Drohnen und Gleitbomben verstärkt. Allein in der Nacht auf Dienstag gab es bei russischem Raketenbeschuss auf die Hafenstadt Odessa zwei Tote und mindestens 18 Verletzte. In Charkiw wurden ebenfalls zwei Menschen verletzt.
Eine der größten Niederlagen für die Ukraine stellte im März der verlorene Kampf um die zur Festung ausgebauten Kleinstadt Awdijiwka in der Oblast Donezk dar. Ging es in den Monaten zuvor um Geländegewinne von wenigen Hundert Metern, sind die russischen Truppen seit Februar 15 Kilometer vorgedrungen und haben eine ganze Reihe weiterer Ortschaften besetzt. Westlich von Awdijiwka gebe es jetzt mehrere taktische Möglichkeiten für Moskau, die Offensive auszuweiten, schrieben die Experten der US-Denkfabrik ISW am Montag. Die russische Kommandoführung habe die Wahl, entweder weiter nach Westen zur Industriestadt Pokrowsk vorzustoßen oder nach Norden zu schwenken, um den Angriff auf Tschassiw Jar zu verstärken.
Hilfspaket aus den USA soll Ukraine Vorteil verschaffen – laut Experten reicht Lieferung nicht aus
Umso wichtiger scheinen neue Waffen- und Munitionslieferungen aus dem Ausland, insbesondere das monatelang verzögerte Hilfspaket aus den USA. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte in einem Gespräch mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass die ersten versprochenen Waffenlieferungen bereits eingetroffen seien. „Doch der Prozess muss beschleunigt werden“, fügte Selenskyj hinzu. Auch der polnische Militärexperte Muzyka sieht in den Lieferungen keinen entscheidenden Vorteil: „Was von den USA kommt, wird den Verlauf dieses Krieges nicht ändern, sondern nur verzögern.“ Mit der neuen Munition könne zwar das Ungleichgewicht verringert, aber keine Gleichstellung mit dem russischen Militär erreicht werden.
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Laut Muzyka ist der Mangel an Soldaten der Schlüsselfaktor, der sich in den nächsten drei bis vier Monaten am stärksten auf die Entwicklungen an der Front auswirken wird. „In dieser Zeit werden die neu mobilisierten Soldaten an der Front erscheinen, aber es besteht auch die Möglichkeit, dass ihre Ausbildungszeit im Falle eines russischen Durchbruchs oder eines Mangels an Reserven auf ein Minimum reduziert wird.“
Der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg redete zuletzt den Nato-Mitgliedern ins Gewissen, ihre militärische Unterstützung für die Ukraine weiter auszubauen. „Die Nato-Partner haben nicht das geliefert, was sie versprochen haben“, kritisierte er. Der Mangel an Munition habe den Russen Vorstöße an der Front ermöglicht. Unterdessen gab die Bundesregierung erstmals seit Wochen wieder neue Waffenlieferungen aus Deutschland bekannt, zu denen auch zehn Marder-Schützenpanzer gehören. (nz mit dpa-Material)