Geht es nach dem Innenministerium, wird die Bundesregierung bald ein leidiges Thema los. Sie strebt an, bis Ende 2025 alle Aufnahmeverfahren von in Pakistan wartenden Afghanen abzuschließen. Das teilte das Haus von Minister Alexander Dobrindt (CSU) auf Anfrage von FOCUS online mit.
Der enge Zeitplan ist überraschend. Denn der Streit, ob die Menschen aus den Afghanistan-Aufnahmeprogrammen noch wie versprochen nach Deutschland einreisen dürfen, zieht sich schon lange. Zunächst hatte die Ampel-Regierung die Aufnahmen heruntergefahren, die neue schwarz-rote Koalition wollte sie ganz stoppen. Weil Gerichte in zahlreichen Fällen die Regierung dennoch zur Aufnahme verpflichteten, sah es lange so aus, als würde das Innenministerium auf eine Verzögerungstaktik setzen.
Der Hintergedanke: Wenn die noch offenen Sicherheitsinterviews nicht geführt, die Flüge nach Deutschland gestoppt und bei Gerichtsverfahren die Fristen maximal ausgereizt werden, bleibt mehr Zeit, um einen möglichen Widerruf der Aufnahmezusagen zu prüfen. Nach Angaben des Innenministeriums wurde im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) die zuständige Abteilung personell verstärkt – wahrscheinlich zu genau diesem Zweck.
Wadephul brachte Ende der Afghanen-Flüge bis Jahresende ins Spiel
Wie kommt es also, dass die Bundesregierung plötzlich aufs Tempo drückt? Offizielle Äußerungen dazu gibt es nicht. Da das Jahresende als Zeitpunkt erstmals von Außenminister Johann Wadephul (CDU) ins Spiel gebracht wurde, gibt es aber Hinweise auf den möglichen Grund.
Die Afghanen mit Aufnahmezusage warten in Islamabad auf die Einreise nach Deutschland. Die pakistanische Regierung fährt allerdings einen harten Abschiebekurs und will diese Menschen schnellstmöglich loswerden – entweder durch die Ausreise nach Deutschland oder durch eine Rückführung nach Afghanistan.
Letzteres kommt für die Menschen einer Tragödie gleich. Sie werden in das von Taliban regierte Land zurückgeschickt, aus dem sie mit der Hilfe Deutschlands fliehen wollten. In ihrer Heimat drohen den Menschen wohl gravierende Konsequenzen, möglicherweise Folter oder der Tod. Teilweise ist es dem Auswärtigen Amt gelungen, die Abgeschobenen wieder zurück nach Pakistan zu bringen. In der vergangenen Woche waren aber noch immer 230 Menschen in Afghanistan – das entspricht mehr als zehn Prozent der Afghanen mit Aufnahmezusage.
Außenministerium sieht die Verantwortung jetzt bei Dobrindt
Außenminister Wadephul hat daher immer wieder das Gespräch mit der pakistanischen Regierung gesucht. Sein Amtskollege sicherte ihm dabei zu, "dass wir aus seiner Sicht Zeit haben, bis zum Jahresende diese Verfahren durchzuführen", wie Wadephul Anfang September sagte.
Er betonte zudem, dass die verbleibende Zeit bis Dezember ausreichend sei. "Aber es ist auch ein Zeitraum, den jetzt alle deutschen Behörden nutzen müssen, damit die Menschen, die uns in vielen Situationen geholfen haben, auch wissen, sie können sich auf die Bundesrepublik Deutschland verlassen", sagte Wadephul.
Das war als kaum verhohlene Aufforderung an das Innenministerium zu verstehen, endlich die Aufnahmeverfahren zu Ende zu bringen. Schon in der Vergangenheit war aufgefallen, dass sich Wadephul eher als Dobrindt bereit zeigte, die wartenden Afghanen zügig aufzunehmen. So machte sich das Innenministerium auch den von Wadephul ausgegebenen Zeitplan zunächst nicht zu eigen.
Auf Anfrage von FOCUS online im Außenministerium, ob der Zeitplan noch steht und ob die deutschen Behörden genug dafür tun, gibt es keine offizielle Antwort. Stattdessen verweist man nach mehrfachem Nachhaken auf die rechtlichen Zuständigkeiten im Verfahren – also aufs Innenministerium. Das Auswärtige Amt will es nicht aussprechen, aber es wird dennoch klar: Wadephul sieht mit der mit Pakistan verhandelten Frist seine Schuldigkeit getan. Jetzt muss Dobrindt liefern.
Schon bei kleinen Verzögerungen wackelt die Frist
In Pakistan wartet derzeit noch viele Menschen – das Innenministerium spricht von rund 1910, das Außenministerium von rund 2200 Personen. Wie die Differenz zustande kommt, ist unklar. Womöglich zieht das Innenressort Fälle mit widerrufener Aufnahmezusage ab, die dem Auswärtigen Amt noch nicht bekannt sind.
Wie viele es auch genau sind: Bei einem Teil von ihnen müssen noch Sicherheitsinterviews durchgeführt werden. Die wurden erst im September wieder aufgenommen. Auf Nachfrage der Grünen-Abgeordneten Schahina Gambir schreibt das Innenministerium, dass pro Woche Interviews "in einem hohen zweistelligen Bereich" geplant sind.
Bei allen Zahlen gibt es viele Unsicherheiten, grob lässt sich aber eine Rechnung anstellen: Wenn es pro Woche 80 Interviews gibt und noch rund 800 geführt werden müssen, würde die Sicherheitsprüfung noch zehn Wochen dauern. Zu berücksichtigen ist, dass das Personal ab ungefähr Mitte Dezember wegen Weihnachten deutlich ausgedünnt sein dürfte. Der Zeitplan könnte womöglich gerade noch realisiert werden, aber schon bei kleinen Verzögerungen würde die Frist bis Jahresende gerissen werden.
Wegen Klagen fliegen bald wieder Afghanen nach Deutschland
Hinzu kommt: Ein erfolgreich absolviertes Sicherheitsinterview heißt noch nicht, dass die Afghanen umgehend nach Deutschland geflogen werden. Bislang ist das nämlich nur bei denen der Fall, die ihre Einreise gegen die Regierung vor Gericht erstritten haben. Und so wird es auch bei den weniger als 20 Afghanen sein, die nach Informationen von FOCUS online am Donnerstag in Deutschland landen werden – und auch bei einem für November geplanten Flug mit mehr Menschen.
Die Bundesregierung definiert nicht genau, was genau bis Jahresende abgeschlossen sein soll. Sollte gemeint sein, dass alle Afghanen, die dann noch eine Zusage besitzen, ausgeflogen werden – wovon wegen der Frist Pakistan auszugehen ist – müssten sich Dobrindt und Wadephul sputen. Über Linienflüge wie zuletzt ließe sich das kaum realisieren, wahrscheinlich wären dann auch wieder Charterflüge notwendig.
Sichert die Regierung mögliche Verzögerungen finanziell ab?
Sollten auch nach dem Jahreswechsel noch Afghanen in Pakistan warten, müssten auch die von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit gestellten Unterkünfte weiter bezahlt werden. Womöglich müsste im Bundeshaushalt dann umgeplant werden.
Ob 2026 überhaupt noch Geld für die Abwicklung der Aufnahmeprogramme eingeplant ist, lässt sich nicht eindeutig sagen, da dort mehrere Ausgaben zusammengefasst werden. Mit dem Thema befasste Experten nehmen aber an, dass es künftig keine Finanzierung mehr geben wird. Die Grünen fordern daher, dass übrig gebliebenes Geld aus diesem Jahr ins nächste Jahr übertragen wird – noch ist unklar, ob die schwarz-rote Koalition dem folgen wird.
Bamf-Mitarbeiter zweifeln an Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens
Zögert die Regierung zu lange, läuft sie außerdem Gefahr, rechtliche Schwierigkeiten zu bekommen. Die Frage, ob die Bundesregierung vor allem bei den Widerrufen im Recht ist, stellen sich offenbar auch die zuständigen Bamf-Mitarbeiter. Die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, dass das Personal Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens habe und die zuständige Rechtsabteilung eingeschaltet habe. Nach Informationen von FOCUS online gibt es nur noch wenige Mitarbeiter, die die Widerrufe unterzeichnen – womöglich, weil andere Angst haben, sich mit ihrer Signatur strafbar zu machen.
Zudem könnten weitere Afghanen gegen die Entscheidungen klagen. Zeitweise waren in den vergangenen Monaten mehr als 100 Verfahren an Verwaltungsgerichten anhängig. Seit Ende September liegt ein Antrag eines Afghanen sogar beim Bundesverfassungsgericht. So leidig das Thema für die Bundesregierung auch ist, dass sie es tatsächlich bis Jahresende loswird, ist unwahrscheinlich.