KI-Professorin verrät, warum Sie jeden Tag KI-Training mit ihren Kindern machen sollten

FOCUS online: Australien hat kürzlich ein Gesetz erlassen, das die Nutzung sozialer Medien für Personen unter 16 Jahren verbietet. Sie haben neulich bei LinkedIn darüber berichtet, dass Sie an die Grundschule Ihrer 9-jährigen Tochter gegangen sind, um den Kindern Einblicke ins Thema KI zu geben: KI-Songs komponieren, Comics aus Bildern erstellen, humanoide Roboter beobachten, mit einem digitalen Avatar sprechen…
Weiß: Aber auch darüber nachdenken, was all das für unsere Gesellschaft in Zukunft bedeutet. Ich bin überzeugt, dass der „funny use of A.I. oftmals der Start für den „transformational use of A.I.“ ist. Das gilt übrigens auch für Erwachsene.

Sehen Sie es denn nicht kritisch, wenn Kinder so früh mit der digitalen Welt in Kontakt kommen?
Weiß: Vielleicht zunächst zum von Ihnen angesprochenen Social-Media-Verbot. Als Mutter kann ich das sehr gut nachvollziehen. Persönlich bin ich davon überzeugt: Je später Kinder in Berührung mit Social Media kommen, je besser man ihnen Zeit gibt, menschlich zu reifen, Gefahren zu erkennen und richtig einzuschätzen und auch bewusst Grenzen zu setzen und einen gesunden Umgang mit Screentime zu entwickeln, desto besser. Wie gesagt, ich kann das grundsätzlich gut hören.

Als Mutter - sagten Sie gerade. Können Sie das denn auch als KI-Expertin gut hören?
Weiß: Ich frage mich schon, ob so ein Verbot durchsetzbar ist. Dafür müssten alle an einem Strang ziehen. Doch noch einmal: Ich finde das prinzipiell sehr gut und kann mir sowas durchaus auch in Deutschland vorstellen. Die Risiken sind wie gesagt wirklich hoch. Und den Schaden, der potenziell verursacht wird, sehen wir oft erst Jahre später – gerade im Bereich der psychischen Gesundheit.

Steht das, was Sie unter anderem an der Grundschule Ihrer 9-Jährigen Tochter machen, nicht im Widerspruch zu dem, was Sie da gerade gesagt haben?
Weiß: Nein, gar nicht. Und übrigens auch nicht die obligatorische abendliche individuelle KI-Viertelstunde meiner beiden Töchter.

FOCUS-Online: Ihre Töchter machen jeden Abend was mit KI?
Weiß: Ja, sie lieben das. Beide haben ein neugieriges Funkeln in den Augen, wenn wir gemeinsam KI anwenden.

Wie alt ist die andere Tochter?
Weiß: Gerade fünf. 

Oha. Und sie beschäftigt sich schon mit künstlicher Intelligenz? 
Weiß: Ja. KI-Kompetenz ist ja etwas anderes als Social Media-Nutzung. Bei ersterem geht es darum, dass schon kleine Kinder verstehen, wie KI grundsätzlich funktioniert, was sie damit machen können – und dass sie nicht nur Konsumenten, sondern Gestalterinnen einer digitalen Welt sind. Auf den Social-Media-Plattformen werden meist Die Frontends virtuos bedient, aber nicht verstanden, was im Backend mit den persönlichen Daten passiert. 

Und beim Erlernen von KI-Kompetenz, worum geht es da?
Weiß: Darum, dass das Kind versteht was im Backend los ist. Dass es selbst Gestalter ist. Zum Gestalten gehört übrigens auch der sensible Umgang mit persönlichen Daten. Meine 9-Jährige hat davon bereits eine Vorstellung, während viele 16-Jährige das nicht haben. Meine Tochter hat auch eine Idee davon, wie eine KI funktioniert – während viele Erwachsene ChatGPT weiterhin wie Google benutzen und nicht verstehen, was der Unterschied zwischen einer Suchmaschine und einem Chatbot ist. Was ist meine Rolle als Mensch mit meiner humanen Intelligenz im Zusammenspiel mit der künstlichen Intelligenz? Was sind die großen Chancenpotenziale? Und was die Risiken? Darum geht es bei der Förderung von KI-Kompetenz.

Welche „Rolle“ sollten Kinder denn haben, wenn sie sich mit KI beschäftigen?
Weiß: Die Rolle des Piloten oder der Pilotin. Die KI sollte den Menschen in allen Funktionen wirkungsvoll ergänzen, nicht ersetzen. Der Mensch bleibt am Steuer, die KI assistiert. So sollte es zumindest sein.

Eine aktuelle Studie stellt die These auf, dass derzeit eine Generation an kleinen Kindern heranwächst, deren erster bester Freund, ein KI-Companion und kein menschlicher Freund mehr ist.
Weiß: Das ist verrückt. Ich bin überzeugt: Magische Momente und Beziehungen gibt es zwischen Menschen, nicht zwischen Menschen und Maschinen. Langfristig läuft es auf eine Fähigkeit hinaus, die wir Menschen deutlich besser beherrschen als KI: Unsere Fähigkeit, tiefe, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen und zu pflegen. Die Sache mit dem besten Freund ist übrigens ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Kapitän und Co-Piloten verwechselt werden können. Ich bin sicher, dass solche Verwechslungen eher passieren, wenn Menschen wenig bewusst mit künstlicher Intelligenz umgehen.

Sie haben gerade von der abendlichen KI-Viertelstunde Ihrer Töchter gesprochen. Was macht Ihre Große da genau?
Weiß: Sie macht ganz viel, aber eines bleibt immer gleich: Sie gibt das Ziel vor, sie steuert. Sie kontrolliert Prozess und Endergebnis. Auf dem Weg dorthin kann sie sehr viel an den KI-Assistenten delegieren. Zu Ihrer Frage: Aktuell schreibt meine Tochter ein Kinderbuch. Es geht um Text, aber auch um Visualisierung. Was man dabei sehr schön sehen kann, ist die Aufgabenverteilung zwischen Mensch und Maschine.

Erzählen Sie.
Weiß: Meine Tochter liebt ChatGPT. Sowohl für Text als auch für Visualisierung, in diesem Tool hat sie beides. Und sie kann das, beides: Voice-to-Text. Und Voice-to-Image. Sie spricht ganz natürlich mit der KI. Sie sagt zum Beispiel: „Kreiere das Bild von einem schwarzen Wallach, der am Strand in den Sonnenuntergang hineingaloppiert - und die Protagonistin, Leni, sitzt mit wehendem braunen Haar auf seinem Rücken. Wenn die KI ihr dieses Bild präsentiert, sage ich immer: „Schau es dir an“. Du trägst die Verantwortung. Möglicherweise stimmt mit dem Bild etwas nicht oder Du möchtest Details anders haben. Vielleicht musst du es noch veredeln? Veredeln - dieses Wort benutze ich gern. Das versteht sie gut. Sie weiß, dass sie ihre eigene Intelligenz nutzen muss, um das, was die künstliche Intelligenz geschaffen hat, kritisch zu betrachten und dann gegebenenfalls weiterzuentwickeln. Mit dem Generieren von Texten ist es ganz ähnlich.

FOCUS-Online: Was?
Weiß: Dass ich sie frage: „Ist das wirklich das, was du ausdrücken möchtest? Klingt das wie du? Ist das eine Sprache, die du auch ansonsten im Leben verwenden würdest? Denn es ist dein Buch. Es ist nicht das Buch von ChatGPT“. Oft überlegt sie dann, wie sie den Text umschreiben kann, damit er ihre persönliche Note bekommt. Wir machen das sehr spielerisch. Wie gesagt, jedes Kind bekommt dafür 15 Minuten am Abend.

Sitzen ihre Töchter dann zusammen vor dem Rechner?
Weiß: Nein, nacheinander und auch jeweils mit mir zusammen. Es geht mir nicht um den vielzitierten digitalen Babysitter. Unsere abendlichen KI-Nuggets haben nicht zum Zweck, das Kind irgendwie zu beschäftigen. Wir kuscheln, wir sprechen, wir lachen. wir sind gemeinsam neugierig. Die KI-Zeit findet bei mir auf dem Schoß statt. Wie gesagt: Erst ist die eine dran, dann die andere. Aufgrund des Altersabstands müssen die beiden Mädchen unterschiedlich gefördert werden.

Was macht Ihre Jüngere am Rechner?
Weiß: Neuerdings ziemlich viel mit Veo - dem derzeit leistungsstärksten Video-Tool aus dem Hause Google. Es ist vor einigen Wochen auf den Markt gekommen. Veo wird die Film- und Werbeindustrie massiv auf den Kopf stellen. Wenn Kindergartenkinder so gute Videos drehen können, wie es meine jüngere Tochter tut, sollte man daran keine Zweifel mehr haben. Ganz ehrlich, wenn da unten rechts nicht das KI-generierte Wasserzeichen drauf wäre, würde ich den Unterschied zu einem herkömmlich produzierten Film in vielen Fällen nicht erkennen. 

Und dieses Wasserzeichen ist immer drauf?
Weiß: Ja. Und ich bin froh, im globalen „Early Access Programm“ von Google’s KI-System Gemini zu sein und Lösungen zu testen, ehe sie auf den deutschen Markt kommen. Ich kann dadurch den Entwicklerteams Feedback geben, beispielsweise auch zu einer solchen Kennzeichnung, die auf KI-generierte Inhalte hinweist.

Mögen Sie sagen, was Ihre kleine Tochter für Filme dreht?
Weiß: Ihr Thema sind Enten. Das Schöne an Veo ist: Der Sound ist exzellent. Und auch das Visuelle. Auf dieser Basis wird humane Kreativität wirklich angeregt: Wie genau soll das aussehen, wenn die Enten ins Wasser springen? Oder wenn die Kleinen der Entenmama hinterherwatscheln? 

Und was könnte dabei schieflaufen? Was könnte Ihre Tochter „falsch machen“?
Weiß: Entscheidend für ein gutes Ergebnis ist ein gutes Prompting und danach der kritische Blick. Das lernt meine Tochter, und sie wird darin schon jetzt zusehends besser. Das fängt schon damit an, dass sie beispielsweise sagt: Es soll ein fotorealistisches Filmchen gedreht werden. Und nicht: ein Zeichentrickfilm. Will ich Disney? Oder eine Szene, die ich so ähnlich hier bei uns am Starnberger See beobachten kann? Sowas will in Ruhe überlegt sein. Was soll die Botschaft des Films sein? Was genau soll ausgedrückt werden? Und wo kann die KI dafür eine unterstützende Kraft sein? Diese Art von Teamwork können auch schon Fünfjährige gut hinkriegen.

Wie reagiert Ihr Umfeld auf Ihre Begeisterung und die Ihrer Kinder? Kommt da auch Kritik? Leute, die den Kopf schütteln und sagen: Man kann doch nicht ein Vierjähriges Kind solche Sachen machen lassen?
Weiß: Ja klar, sowas höre ich immer mal wieder. Etwa, wenn ich etwas zum Thema bei LinkedIn poste. Dann kommen so Kommentare wie: „Gehen Sie doch besser mit Ihren Kindern in den Wald“!

Was antworten Sie?
Weiß: Dass das eine das andere nicht ausschließt. Wir gehen in den Wald und sammeln Schnecken. All das mache ich auch mit meinen Kindern. Ich weiß nicht, wo die Assoziation herkommt, dass 15 Minuten begleitete Screentime im Hinblick auf die wohl wichtigste Zukunftskompetenz ein Problem sein soll. Dass man dafür direkt in Verdacht gerät. Noch mal: Natürlich bin ich der Überzeugung, dass wir im Analogen nicht ungebildet bleiben dürfen. Das abendliche Lernen meiner Kinder ist eine Ergänzung. 

Glauben Sie, dass dieses Learning den Kindern eines Tages dein Umgang mit Social Media helfen wird?
Weiß: Absolut. Das KI-Kompetenztraining kommt zwar sehr spielerisch daher. So, als würde das Kind sagen: Ich möchte malen, Mama. Aber letztendlich ist es natürlich mehr. Wie gesagt, es geht um Bewusstwerdung. Ich bin die Kapitänin. Ich entscheide. Und es geht um Datensensibilität, das ist der zweite wichtige Punkt. Und es geht um kritisches Reflektieren, um das bewusste Hinterfragen der Ergebnisse. Ich gebe Ihnen dazu ein weiteres Beispiel: Meine große Tochter komponiert zurzeit gerne Songs. Mal für die Schulklasse, mal für Freundinnen. Neulich hat sie einer Freundin zum Geburtstag einen persönlichen Song geschrieben. Sie weiß, dass auch die Lyrics dann besonders gut werden, wenn die KI entsprechend mit Infos gefüttert wird, also wenn sie gut promptet. Den Vornamen der Freundin fand ich hier in Ordnung - es gibt schließlich viele Sophias. Den Nachnamen fand ich aber nicht in Ordnung. Wir haben darüber gesprochen, was die Preisgabe bedeuten würde. Die des Namens und auch wenn weitere Details aus dem gemeinsamen Alltag der Mädchen verraten werden. Meine Tochter weiß, dass diese persönlichen Dinge nicht in die Öffentlichkeit gehören. Anders ausgedrückt: Nach unseren Gesprächen dazu hat sie ihr Gespür fürs Backend weiter verbessern können. In einem Alter, wo sie noch gar kein internetfähiges Handy hat wohlgemerkt. Ich bin fast sicher: Wenn sie eines Tages ein solches Gerät bekommt, wird sie weit weniger verloren sein als andere in ihrem Alter. Übrigens: Auch in Sachen Rollenverständnis.

Worauf spielen Sie an?
Weiß: Meine 5-Jährige kann mit dem Glitzereinhorn spielen, aber sie hat eben auch keine Berührungsängste mit Technik. Es gibt eine Studie, die gezeigt hat, dass Mädchen unter 13 Jahren das generell nicht haben – diese Berührungsängste. Null. Dass Mädchen sich in Bezug auf technisches Know-how anders einschätzen als Jungs, beginnt danach. Dieses fragwürdige Rollenverständnis ist komplett sozialisiert. Da meine Ältere schon mit 9 Jahren das wohl beste Verständnis von KI an der ganzen Schule hat bin ich für meine Kinder hier zuversichtlich.

Nun haben nicht alle Kinder den Luxus, eine KI-Professorin zur Mutter zu haben. Gibt es etwas, das Sie anderen Eltern mitgeben möchten?
Weiß: Ganz wichtig: KI ist zu mindestens 90 Prozent Anwendungskompetenz - und überhaupt nichts Schwieriges. Weil die Technik von so vielen Menschen genutzt wird, ist ihre Anwendung so einfach wie möglich gestaltet. Die Barrieren sind mehr in den Köpfen als in der Realität vorhanden. Wir haben alle Fahrradfahren gelernt. Ganz einfach, indem wir uns ein Fahrrad geschnappt haben. Wir haben nicht Fahrradfahren gelernt, in dem wir Trainings über das Fahrradfahren besucht haben Bücher dazu gelesen haben. Wir sind in die Anwendung gegangen, haben geübt, geübt, geübt und sind dadurch zu guten Radfahrern geworden. Genauso ist es mit dem Thema KI auch.

Und wie gehe ich nun konkret vor, wenn ich mich in Sachen KI schlau machen möchte?
Weiß: Es gibt sehr viele gut gemachte Einstiegs- und Weiterbildungskurse. Von Microsoft oder LinkedIn Learning über die OpenAI Academy bis hin zur Google Zukunftswerkstatt. Die meisten dieser selbstgesteuerten Angebote sind kostenfrei. Das Einzige, was man bei diesen Angeboten beherzigen sollte: Sie kommen vom jeweiligen Hersteller, entsprechend steckt grundsätzlich auch ein Geschäftsinteresse dahinter. Ich würde mich freuen, wenn die europäischen KI-Unternehmen, die wir ja haben, hier sich ebenfalls engagieren würden. Wir dürfen das Thema Bildung nicht profitorientierten amerikanischen Unternehmen überlassen.