Einblick in Lage an Ukraine-Front: Sanitäter berichtet von verheerenden Zuständen – und der riskanten Flucht
Personalmangel ist im Ukraine-Krieg ein präsentes Problem, vor allem für Kiew. Verstärkt wird es durch Fahnenflucht. Und mit ihr haben es beide Kriegsparteien zu tun.
Kiew/Moskau – Während der Ukraine-Krieg auf sein viertes Kriegsjahr zusteuert, kämpfen beide Kriegsparteien noch immer mit Hürden und Problemen, die sich bereits früh im Krieg als solche herausstellten: Von ukrainischer Seite werden immer wieder materielle Engpässe beklagt, die eine Unterstützung internationaler Verbündeter notwendig machen. Wladimir Putins Armee dagegen hat reichlich altes Kriegsgerät aus Sowjetzeiten in der Hinterhand, mit dem sich aber immerhin experimentieren lässt. Sorgen könnte Putin aktuell eher bereiten, wie sich der Ukraine-Krieg angesichts immer neuer Sanktionen gegen Russland langfristig finanzieren ließe.
Doch auch die personelle Situation spielt im Ukraine-Krieg für beide Seite eine immens wichtige Rolle: Russland versucht seine hohen personellen Verluste im Krieg durch immer neues Personal zu kaschieren und erhält dabei in Kursk seit Wochen Hilfe von seinem Verbündeten Nordkorea. Kiew hat es dagegen deutlich schwerer, eigenes Personal aufzustocken. Katalyisiert werden personellen Sorgen im Krieg aber auch noch durch einen anderen Aspekt: Fahnenflucht. Einen Einblick in die Lage an der Front gibt da die jüngst bekannt gewordene Geschichte eines russischen Deserteurs.
Desertierter Sanitäter über Ukraine-Krieg – „Ich erkannte, dass meine Bemühungen vergeblich waren“
Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 wurde Alexei Schiljajew rasch klar, dass er den Angriffskrieg Putins nicht gutheißen kann. Im November 2023 traf der 39-jährige IT-Spezialist aus St. Petersburg dann jene Entscheidung, die sein Leben von heute auf morgen aus den Angeln heben sollte: Er meldete sich als Sanitäter bei der russischen Armee, da er hoffte, so an der Front Leben retten zu können.

Fünfzehn Monate später bleibt Schiljajew rückblickend nur noch, ein überaus ernüchterndes Resümee aus seinem Engagement als Sanitäter im Ukraine-Krieg zu ziehen: „Ich erkannte, dass meine Bemühungen vergeblich waren“, fasst er sein monatelanges und über weite Strecke von Leid geprägtes Engagement an der Front gegenüber der russischen Moscow Times zusammen.
So fasste er den Entschluss, zu desertieren. Damit gehört auch Schiljajew zu den zahlreichen Fahnenflüchtigen, die beide Kriegsparteien beklagen. Wie viele es genau sind, lässt sich dabei jedoch nicht exakt sagen. Internationale Medien, darunter Euronews, legen für die Anzahl ukrainischer Deserteure seit Kriegsbeginn einen Wert von etwa 100.000 nahe. Das unabhängige und im Exil ansässige russische Rechercheinstitut Mediazona legte immerhin offen, dass seit Putins Mobilisierung rund 7.400 Fälle unerlaubter Flucht vom Kriegsdienst vor Militärgerichten verhandelt wurden. Doch der New York Times sind Experten sich einig, dass diese Zahl sehr weit unter der eigentlichen Dunkelziffer liegt.
„Alles war ausgelöscht“ – Sanitäter im Ukraine-Krieg beschreibt Eindrücke von der Front
Doch Monate bevor Schiljajews Kriegsgeschichte mit seiner Fahnenflucht ein Ende fand, nahm sie ihren Anfang in seiner Heimatstadt St. Petersburg. Es war der 20. November 2023, als sich Schiljajew auf den Weg zum Moskauer Bahnhof in St. Petersburg begab, um dort einen Freund zu treffen. Weil er auf der Strecke gesehen habe, wie Massen von verstümmelten Soldaten in Sanatorien gebracht wurden, habe er sich wegen seiner zu Jugendzeiten abgeschlossenen Sanitäter-Ausbildung angesprochen gefühlt. Und noch mehr als das: Jener Anblick habe ihn „zum Handeln gezwungen“, führt er aus.
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Nachdem er seinen Vertrag unterzeichnet hatte, wurde der 39-Jährige in ein Ausbildungslager in Pogonowo bei Woronesch versetzt. Wenige Tage später ging es für ihn auch schon an die Front, und zwar nahe der Orte Svatove und Kreminna im Oblast Luhansk in der von Russland teils besetzten Ostukraine. Dort wurde Schiljajew rasch Zeuge der Zerstörung in einem Ausmaß, das er sich bis dato nicht hätte ausmalen können. „Alles war ausgelöscht. Die Menschen, die blieben, arbeiteten auf Märkten, in Werkstätten und Bordellen. Es gab nichts mehr – keine Industrie, keine Arbeitsplätze“, betont er.
Stationiert gewesen sei er in den Schützengräben hinter der Front, musste aber jeden Tag ausrücken, um neue schwerverletzte und tote Soldaten an der Front zu bergen. Weil er sich an die Nachname der von ihm geretteten Soldaten habe erinnern können, fiel ihm schon nach wenigen Wochen auf, wie oft er es als Sanitäter mit wiederkehrenden Patienten zu tun hatte: „Da wurde mir klar, wie sinnlos meine Arbeit aus medizinischer Sicht war. Der Lebenszyklus eines russischen Soldaten endet unweigerlich in einem Angriff, bei dem man töten oder getötet werden muss. Und ich möchte weder das eine noch das andere tun.“
Desertierter russischer Soldat verurteilt Putins „Kanonenfutter“-Strategie
Schockiert ist Schiljajew der Moscow Times zufolge von der russischen Taktik, immer mehr Soldaten – und darunter auch viele kaum ausgebildete oder schlecht ausgerüstete – an die Front zu schicken. Als „Kanonenfutter“, wie es heißt. Allein, um den Abnutzungskrieg aufrecht zu erhalten. Das sei bei den ukrainischen Truppen anders: „Die ukrainischen Streitkräfte schätzen ihre Soldaten“, sagt Schiljajew. Sichtbar werde das auch an den Zahlen gefallener Soldaten auf beiden Seiten: „Im Durchschnitt haben wir etwa sieben russische Leichen und ein oder zwei ukrainische evakuiert“, benennt der Sanitäter das ungleiche Verhältnis.
Trotz seiner ursprünglich gut gemeinten Ambitionen, Menschenleben zu retten, holte es den Sanitäter moralisch immer wieder ein, überhaupt Teil des Krieges zu sein: „Die Menschen, die wir laut Putin ‚befreien‘ sollten, hassten uns und machten das allein durch die Blicke deutlich, die man uns in einem Geschäft zuwarf. Ich wusste, dass ich ein Teil der Besatzungsmacht war – jeder Soldat dort wusste das. Nur die Zivilisten zu Hause verstehen es immer noch nicht“, kritisiert Schiljajew.
Desillusioniert gab der Kriegssanitäter seinen Posten bei der russischen Armee im August 2024 auf, woraufhin er sich mit einem von seinem Kommandanten ausgestellten Urlaubsschein zurück nach Russland begab. Danach flog er nach Weißrussland, wo er Kontakt zur Anti-Kriegs-Initiative Get Lost aufnahm. Sie halfen dem Deserteur, nach Frankreich auszureisen, wo er nach seiner Ankunft Asyl beantragte. Bei einer Rückkehr nach Russland drohen Schiljajew bis zu fünfzehn Jahren Haft. Aber auch dem ukrainischen Gesetz nach wird Fahnenflucht mit einer langjährigen Freiheitsstrafe bedacht, wie mitunter die ukrainische The Defense Post informiert: Deserteuren drohen in der Ukraine zwölf Jahre Haft. (fh)