Ein schwerer Trainingsunfall änderte das Leben der ehemaligen Schwimmerin und Turnerin Miriam Reindl schlagartig. Die Weilheimerin ist seitdem querschnittsgelähmt und ein Pflegefall. Doch ihren Lebensmut lässt sie sich dadurch nicht nehmen.
Weilheim – „Ich will mich bedanken, ich fühle mich so wohl bei Euch, ich bin der glücklichste Mensch der Welt“, sagt Miriam Reindl auf dem Sommerfest der Weilheimer Alpenlandpflege und strahlt dabei über das ganze Gesicht. Dann übernimmt ihre beste Freundin Kerstin Uhl und überreicht dem Team, das sich um sie versammelt hat, einen Dankes-Pokal. „Für das beste Pflegeteam der Alpenlandpflege Weilheim – von Miriam Juli 2025“ ist dort zu lesen. Einen ähnlichen Pokal erhält das Hausmeister-Ehepaar des Weilheimer Pflegeheims.
Miriam Reindl war erfolgreiche Schwimmerin und Geräteturnerin
Miriam Reindl? War das nicht die Frau, die über Jahre als Schwimmerin nationale und internationale Erfolge für den TSV Weilheim erzielen konnte? In der Tat zeugen zahllose Pokale, Medaillen und Urkunden in ihrem Zimmer von großen sportlichen Taten im Schwimmen, aber auch im Geräteturnen. All das sind schöne Erinnerungen, denn die heute 57-Jährige ist sogenannte Tetraplegikerin, seit sie am 26. März 2022 im Training am Stufenbarren bei der Schlussfigur unglücklich mit dem Kopf zuerst aufgeschlagen war und zwei Halswirbel brachen. Seither kann sie außer dem Kopf nichts mehr bewegen.
Dank Übungsleiter Christian Hub lief damals sofort die Rettungsmaschinerie an: Unfallklinik Murnau, Luftröhrenschnitt, künstliche Beatmung, drei Monate Reha und schließlich das Intensiv-Pflegeheim Alpenlandpflege. Reindl wird hier bestens betreut und versorgt, aber ist das ein lebenswertes Leben? Kein Schwimmen, kein Turnen, kein gemeinsames Singen und Musizieren, keine Arbeit, keine eigenen sozialen Zuwendungen und Aktivitäten – alles Dinge, die ihr Leben so reich und schön gemacht hatten.
Reindl musste unterschreiben, um Müsli essen zu dürfen
Denn nicht nur sportlich war Reindl ein Multitalent. Sie hat jahrelang zwei Mädchengruppen beim TSV betreut, aber auch Geige, Klavier und Querflöte gelernt und lange Zeit mit Freundin Kerstin im Kirchenchor gesungen. Daher kennen sich die beiden, die längst unzertrennlich sind.
Um 5.30 Uhr ist Reindls Nacht auf der Wechseldruckmatratze mit dem ersten Umlagern beendet, viermal am Tag passiert das. Um 7.30 Uhr gibt es Frühstück. Reindl liebt Müsli, musste aber unterschreiben, dass sie das auf eigenes Risiko einnimmt. Denn nicht genug, dass es ihr angereicht werden muss. Nicht mal ein Abhusten ermöglicht ihr gelähmter Körper, falls sie sich verschluckt. Nur eine eingespielte, sofortige Hilfe-Routine durch Absaugen verhindert den Tod durch Ersticken.
Kleiner Erfolg: Reindl kann linken Arm leicht nach oben ziehen
Über den Tag folgen Hygienemaßnehmen und – an je zwei Tagen der Woche – Therapiezeiten der Ergo- und der Physiotherapeutin. Gelenke werden bewegt, Muskeln stimuliert mit manueller und Lichttherapie, die inaktiven Nervenbahnen zum Funktionieren angeregt. Der „arbeitslose“ Körper darf seine verbliebene Vitalität nicht verlieren, denn die Organe müssen ja weiter funktionieren. Ein kleiner Erfolg hat sich bereits eingestellt. Reindl kann den linken Arm, der sonst ausgestreckt und unbeweglich am Körper liegt, schon ein Stück weit nach oben ziehen.
Wer die liebenswürdige Frau in ihrem Zimmer besucht, begrüßt sie mit einem Lachen und ehrlicher Freude. Zwei bis drei Besuche bekommt sie jede Woche – junge Frauen aus ihren ehemaligen Turngruppen, Sportler- und Arbeitskolleginnen und „mein Bruder Walter besucht mich oft“. Auch sonst ist Miriam – längst duzen sich Bewohnerin und Therapeuten untereinander – nicht einsam: „Ich muss sagen, dass ich mein neues Leben mit anderen Augen sehe. Ich genieße es, muss mich um nichts kümmern, lasse mich verwöhnen“, sagt sie. Man glaubt es ihr, freut sich mit ihr und bewundert sie für diesen kaum fassbaren Pragmatismus.
In Südkorea geboren, von Weilheimer Familie adoptiert
Der Start in ein erfülltes Dasein war Miriam Reindl nach ihrer Geburt in Südkorea nicht gegeben und es ließ sich nicht einmal ansatzweise erahnen, was für einen ungewöhnlichen Weg ihr Leben nehmen sollte. Passanten griffen die circa Zweijährige, die auf einer Insel orientierungslos herumlief, damals auf, die Suche nach ihrer Identität und ihren Eltern verlief ergebnislos. Die internationale Bürgerrechtsorganisation Terre des Hommes veranlasste, dass das Kind in ein koreanisches Kinderheim gebracht wurde, das ihr für fünf Jahre ein Zuhause gab.
„In der Zeit setzte damals aufgrund des Korea-Krieges ein großer Vermittlungsboom ein“, erzählt Kerstin Uhl, während sich Reindl zufrieden einem Mittagsschlaf hingibt. Das Mädchen wurde von der Familie Senff adoptiert und landete so in einer neuen Welt, in der sie – von jetzt auf eben – zwei ältere Brüder hatte. Die kleine Miriam wuchs behütet auf, eine koreanische Adoptivschwester und ein Adoptivbruder bereicherten ihr Leben bald zusätzlich.
1992 Halbfranzosen Jean-Louis Reindl geheiratet
Als Mitglieder beim TSV Weilheim förderten die Senffs ihr Interesse an Sport und sorgten für Trainingsmöglichkeiten der Kinder beim Verein. Bei Turnen und Schwimmen kristallisierte sich bald Letzteres als Trainingsschwerpunkt heraus. Erste Erfolge auf den vielen Wettkämpfen setzten die Basis für ihre späteren Medaillen.
1992 heiratete die junge Frau den Halbfranzosen Jean-Louis Reindl und lernte im Kirchenchor ihre Busenfreundin Kerstin Uhl kennen. Ihrem sozialen Instinkt folgend, ließ sie sich zur Arzthelferin ausbilden und arbeitete 24 Jahre in einer Weilheimer Hausarztpraxis. Fünf Tage Arbeit, sechs Trainingseinheiten pro Woche verlangten ihr viel ab.
48 Jahre älterer Ehemann erlitt Schlaganfall
Noch mehr wurde es, als ihr 48 Jahre älterer Mann einen schweren Schlaganfall erlitt und sie ihn 16 Jahre pflegte, bis er 2013 starb. Trotz alledem ließ es sich die Sportlerin nicht nehmen, immer wieder an regionalen, nationalen und internationalen Wettbewerben teilzunehmen. Ihren größten sportlichen Erfolg hatte sie 2015 bei der Masters-Schwimm-WM in Kasan, in der russischen Republik Tatarstan, als sie über 200 Meter Lagen den siebten Platz erreichte.
Uhl, die wie bei vielen weiteren internationalen Reisen die kompletten Vorbereitungen übernommen hatte, begleitete sie zu der Masters-Weltmeisterschaft der Senioren im südkoreanischen Gwangju. Die Schwimmerin erzielte damals beachtliche Erfolge in verschiedenen Stilarten. Dank Crowdfunding, einem ausführlichen Zeitungsartikel in der Heimatzeitung und der guten Freundin war der Traum wahr geworden, das Land ihrer Geburt kennenzulernen.
Goldmedaillen umgetauscht
„Miriam ist ein unheimlich großzügiger und sozialer Mensch“, schwärmt Uhl über ihre Gefährtin. Sie schätzt deren unbekümmerte, fast kindliche Fröhlichkeit und erzählt eine liebenswerte Episode von der gemeinsamen Reise, die ihre musikalische Freundin auf charmante Weise charakterisiert. „An vielen öffentlichen Plätzen stehen in Korea Klaviere rum. Da ist sie an keinem vorbeigegangen, ohne selbst etwas zu spielen.“
Einen extrem ungewöhnlichen Akzent im Sport, bei dem es ja bekanntlich um Medaillenränge geht, setzte Reindl auf einem Schwimm-Wettbewerb in Zürich. In fünf Wettbewerben mit verschiedenen Schwimmstilen und Distanzen hatte sie Gold gewonnen. Aber, O-Ton Reindl: „Fünf Goldmedaillen sind langweilig, ich werde versuchen, welche zu tauschen.“ Der ausrichtende Verein dürfte sich gewundert haben, erfüllte ihr aber den Wunsch und tauschte drei davon in einen kompletten Satz mit Gold, Silber und Bronze um.
Autounfall bei Fahrt von Tutzing nach Weilheim
Ein Unfall, selbst verursacht durch einen Sekundenschlaf auf einer Autofahrt von Tutzing nach Weilheim, hatte ihre sportlichen Ambitionen zwischenzeitlich bereits einmal unterbrochen. Glücklicherweise verlief der trotz Kopf- und Unterleibsverletzungen glimpflich, weil, so die Ärzte damals, sie durch ihre sehr gute Muskulatur geschützt gewesen sei. Weniger Glück hatte sie zwölf Jahre später bei ihrem Turntraining.
Miriam Reindl liegt im Bett, nur ihr freundliches Gesicht schaut unter der Bettdecke hervor: „Ich kann jetzt Sachen machen, für die ich vorher keine Zeit hatte“, sagt sie. Mit dem Handy mittels Mundsteuerung telefonieren, über Sprachsteuerung WhatsApp-Nachrichten schreiben oder Fernsehen könne sie – am liebsten Krimis und Quizsendungen. Nach dem Mittagessen um 11.30 Uhr schläft sie rund zwei Stunden mit Sauerstoffmaske. Nachmittags widmet sie sich ihren Besuchern, zum Ratschen oder Spielen, oder hört Musik.
Reindl möchte wieder schwimmen
Wenn es nicht regnet oder zu heiß ist, genießt sie die Natur im schönen Garten-Grundstück oder macht auch schon mal eine kleine Ausfahrt mit ihrem E-Rollstuhl in die umgebende Natur oder zu einer Sportveranstaltung – natürlich mit Begleitung. Um 16.30 Uhr gibt es dann schon wieder Abendessen und ein letztes Umlagern zur Nachtruhe.
Die Querschnittsgelähmte jammert nicht und sie hadert nicht mit ihrem Schicksal. Aber neben weiteren, kleinen Fortschritten in der Beweglichkeit, hat sie einen großen Wunsch: „Ich möchte gerne mal wieder schwimmen gehen“, sagt sie, zurück in das Element, dass ihr so viel Freude und Begegnungen gebracht hat.
Die Unfallklinik Murnau bietet Behindertensport an. Reindl hofft, dort im Herbst, im Rahmen einer Wassertherapie, auf eine „Rückkehr“ in ein Schwimmbecken. Die Fühler sind ausgestreckt und mit etwas Glück wird dieser große Wunsch bald Wirklichkeit. Ein Kran müßte sie ins Wasser hieven und eine geschulte Person sie dort begleiten. Für sie wäre das momentan der größte denkbare Erfolg. Kein sportlicher diesmal, ohne Pokal oder Medaillen, aber aktuell ein wichtiges Stück in dem großen „Lebens-Puzzle“ einer bewundernswerten Frau.
VON EMANUEL GRONAU