Warnung wegen Kursk-Attacke: „Könnte das militärische Ende der Ukraine einleiten“

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Ukrainische Streitkräfte rücken in der russischen Region Kursk vor. Nun hat sich ECFR-Militärexperte Gustav Gressel zur Lage vor Ort und den Chancen des Angriffs für die Ukraine geäußert.

Kiew/Moskau – Vor Kurzem (7. August) holte die Ukraine zu einem Überraschungsangriff auf Russland aus. Von Sumy aus überquerten Truppen die russische Grenze und drangen in die feindliche Region Kursk im äußersten Westen Russlands ein. Es ist der erste Grenzübertritt ukrainischer Truppen überhaupt seit Beginn des Ukraine-Kriegs. Der Kreml sah sich durch den Angriff auf Kursk zu einer raschen Reaktion gezwungen

So veranlasste der Angriff Wladimir Putin, den Notstand für die Oblast im äußersten Westen Russlands auszurufen und das lokale Atomkraftwerk aus Angst vor Angriffen stärker abzusichern. Während die heftigen Gefechte in Kursk andauern, äußerte sich nun der Militär- und Osteuropa-Experte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) zur Situation in Kursk sowie zu Risiken und Hoffnungen des Überraschungsangriffs für die Ukraine.

Militärexperte Gressel warnt vor Gefahrenpotenzialen der Kursk-Offensive für die Ukraine

Obwohl Informationen aus Kursk-Front bislang „sehr lückenhaft“ seien und sich vornehmlich auf Quellen und Videomaterial aus Russland stützen, gelängen der Ukraine aktuell größere Vorstöße und Geländegewinne auf das Herrschaftsgebiet Putins. „Wahrscheinlich kontrollieren die Ukrainer etwa ein Territorium zwischen Sudscha im Osten, Malaja Loknja im Norden und Nowoiwanowkaim im Nordwesten“, resümiert Gressel die aktuelle Lage vor Ort in Kursk im Interview mit Spiegel Online.

Der Grenzübertritt ukrainischer Streitkräfte und das Vorrücken in Kursk zwangen den Kreml zum Handeln. Nun hat der ECFR-Militärexperte und Osteuropa-Fachmann Gustav Gressel die Lage in Kursk eingeschätzt.
Ein bewaffneter russischer Soldat an der Front in Avdiivka (Symbolbild) © IMAGO/Stanislav Krasilnikov

Einer neuen Analyse des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) zufolge gelingt es Russland im Vergleich zur Vorwoche inzwischen besser, sich gegen ukrainische Angriffe in Kursk zu verteidigen. Dennoch sollen geolokalisierte Aufnahmen und russische Berichte darauf hindeuten, dass ukrainische Streitkräfte ihre Stellungen weitgehend halten. Drei Einheiten ukrainischer Brigaden sind laut ECFR-Experte Gressel an der Kursk-Offensive beteiligt – ihr genaues Kontingent sei aber unklar.

Auch wenn der Vorstoß in russisches Staatsgebiet Putin zunächst zu überraschen vermochte, mahnt der ECFR-Experte gegenüberSpiegel Online auch vor Gefahrenpotenzialen, die von der Kursk-Offensive für die Ukraine ausgehen. Auf Dauer nämlich dürfte es den ukrainischen Streitkräften dem Osteuropa-Experten zufolge schwerfallen, Stellungen in Kursk zu halten. Denn mit jedem weiteren Vorrücken müsse immer mehr Personal nachrücken und Material nachgeliefert werden. Gressel versieht seine Einschätzung der Situation vor Ort deshalb mit einer deutlichen Warnung: „Das Kursk-Manöver könnte das militärische Ende der Ukraine einleiten“, gibt er zu bedenken.

Militärexperte Gressel: „Überraschungsvorteil der Ukraine könnte sich schnell zum Nachteil verwandeln“

Die Stellung in Kursk über mehrere Monate zu halten, würde enorme militärische Kosten bedeuten, die für die Ukraine laut dem ECFR-Experten „kaum tragbar“ seien. Außerdem hätte eine potenzielle Verlängerung der Frontlinie in erster Linie Vorteile für Russland. „Es hat mehr Waffen, Munition und Personal, die es an einer längeren Front einsetzen kann. Der Überraschungsvorteil der Ukraine könnte sich schnell zum Nachteil verwandeln“, führt Gressel aus.

Der ukrainische Offensive auf Kursk erfolgte Gressel zufolge zu einem Zeitpunkt des Kriegs, an dem Wolodymyr Selenskyj und übrige hochrangige ukrainische Offizielle längst eingesehen haben, dass die Hilfe internationaler Verbündeter nicht ausreicht, um Russland endgültig abzuwehren. Westliche Unterstützungsangebote seien für die Ukraine laut Gressel „zum Sterben zu viel“, aber „zum Leben zu wenig.“

Beständige Personal- und Materialsorgen der Ukraine sind auch in Kursk ein Problem

In Kursk werde so gegenwärtig auf ein Neues das althergebrachte Problem sichtbar, mit dem die ukrainischen Truppen schon seit Beginn des russischen Angriffskriegs hadern: „Die Ukraine handelt nicht aus einer Situation der Stärke. Sie ist der Armee Russlands an Personal und Munition unterlegen“, resümiert Gressel.

Hinzukommt, dass die russische Offensive im Donbass anhält und von der Ukraine nur unter äußerster Mühe zu bremsen zu sein scheint. „Dort sind viele der eingesetzten Brigaden ziemlich abgekämpft. Sie warten auf die Ablösung durch frische Kräfte, die aktuell jedoch in Kursk eingesetzt werden“, betont der Militärexperte.

Die Lage im Donbass veranlasste dieser Tage (9. August) auch den Vorsitzenden des ukrainischen Geheimdienstes, Kyrylo Budanow, zu einem wenig hoffnungsvollen Statement. „Aus militärischer Sicht ist es viel einfacher, die Krim zurückzuerobern als den Donbass, dessen Front länger als 1000 Kilometer und eine Tiefe von über 200 Kilometern ist“, räumte Budanow dem US-Medium Forbes zufolge während einer Rede an der Kyiv School of Economics ein.

Schaden der Kursk-Offensive bleibt für den Kreml überschaubar: „Putin hat schon viele Krisen überlebt“

Während Putin mit seiner groß angelegten Donbass-Offensive weiter massiven Druck auf Selenskyjs Truppen in der seit 2014 umkämpften Ostukraine ausübt, rückt eine weitere Frage ins Zentrum des Kriegsgeschehens: Wie genau geht Putin weiter in Kursk vor? Nahe liegt dem Osteuropa-Experten zufolge, dass Putin in Kursk nun zu verstärkten Truppenverlegungen ausholen wird. 

„Das neu aufgestellte 44. Armeekorps Russlands hat etwa 7000 Mann in der Region Kursk“, schätzt Gressel. Da Putins Truppen jedoch weiter von der Grenze entfernt stationiert sind, sei ihre Verlegung nun eine sehr wahrscheinliche Option. Auch sei es denkbar, dass Putin einige weitere seiner Truppen von den Kriegsgebieten in der Region Charkiw und dem Donbass nach Kursk verlegt.

Der Schaden, den die Kursk-Offensive für den Kreml bedeutet, dürfte laut Osteuropa-Fachmann Gressel bislang noch verkraftbar für Russlands langjährigen Machthaber sein. Zwar schade die Kursk-Offensive der Glaubwürdigkeit russischer Propaganda, für den Kreml dürfte das aber hinzunehmen sein: „Putin hat schon viele Krisen überlebt“, hält Gressel fest. „Kursk liegt an der Peripherie – um die sich die russische Führung weniger schert. Da ist sie eher gewillt, Verluste in Kauf zu nehmen“, unterstreicht er. (fh)

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