Truppenverlegung wider Willen: Putin muss auf Kursk-Offensive reagieren
Mit der Kursk-Offensive hat die Ukraine eine neue Front eröffnet. Russische Soldaten kämpft an allen Fronten – Putin scheinen jedoch die effektiven Kräfte auszugehen.
Kursk – Der Generalmajor und stellvertretender Leiter der Militärpolitischen Hauptverwaltung der russischen Streitkräfte, Apty Alaudinov, äußerte sich gelassen gegenüber der Nachrichtenagentur Tass: „Die ukrainischen Streitkräfte sind dem Untergang geweiht“. Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, warf dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor, ukrainische Bürger in der Region Kursk „zur Schlachtung“ geschickt zu haben.
Die Nachrichtenagentur Associated Press hingegen berichtet, dass die ukrainischen Verteidiger durch ihren Vorstoß im Ukraine-Krieg Wladimir Putin in eine schwierige Lage gebracht hätten. Putin könnte gezwungen sein, Offensivkräfte aus Charkiw nach Kursk zu verlegen – wider Willen. Der US-amerikanische Nachrichtensender NBC bezeichnet dies als eine „gewagten Herausforderung für den Kreml“. Der Krieg hat seine Richtung gewechselt; fraglich ist nur, wie nachhaltig die Umkehr der Offensivkraft sein wird.
Russlands Reaktion auf Kursk-Offensive im Ukraine-Krieg: Berichte über Truppen-Verlegungen
Das Institute for the Study of War (ISW) berichtet, dass das russische Militärkommando beschlossen habe, der Ukraine leicht zu mobilisierende Einheiten aus dem russischen Hinterland entgegenzustellen. Darunter fallen demzufolge beispielsweise die tschetschenische Spezialeinheit Achmat und das 1. Armeekorps der „Volksrepublik Donezk“, eine Miliz in der Region Donezk, sowie ehemalige Soldaten der Wagner-Gruppe. Auch Teile des russischen Afrika-Korps aus der Region Krasnodar sollen in die Region verlegt werden.
Je nach Dauer und Schwere des ukrainischen Vormarsches könnte Russland zum Handeln gezwungen werden, so das ISW: „Das russische Militärkommando widersetzt sich derzeit möglicherweise dem operativen Druck, Kräfte aus anderen operativen Richtungen umzuverlegen, um zu verhindern, dass der ukrainische Einmarsch die russischen Offensivoperationen in der Ostukraine stört.“
Berichte über Kursk-Offensive: Unerfahrene russische Soldaten – leichtes Spiel für ukrainische Truppen
Die Agentur Associated Press sieht die Erfolge der Ukraine darin begründet, dass ihre Truppen auf unerfahrene russische Kräfte gestoßen sind und leichtes Spiel hatten. Die russischen Einheiten entlang der Grenze bestanden demnach aus schlecht ausgebildeten Wehrpflichtigen, die von ukrainischen Eliteeinheiten leicht überwältigt werden konnten. Es scheint, dass einige Wehrpflichtige möglicherweise in Gefangenschaft geraten sind. AP berichtet zudem, dass die Grenzregion ursprünglich nur von einer geringen Anzahl an Truppen bewacht wurde. Selbst die nachträglich eingetroffenen Ex-Wagner-Söldner hätten gegen die Ukrainer keine Chance gehabt.
Ungeachtet dessen scheint Russland aufgrund der Fülle seiner Ressourcen einen Mehrfronten-Krieg führen zu können, behauptet Frank Ledwidge. Der Dozent für Kriegswissenschaften an der englischen Universität Portsmouth vermutet, dass die Ukraine mit ihrem Einmarsch einer russischen Offensive in der Region Sumy zuvorgekommen ist.
Schon zu Beginn des Ringens um Charkiw war in der Ukraine vermutet worden, Russland könnte seine Aktivitäten auf Sumy ausweiten, um entweder eine Umgehungslösung für Charkiw zu finden oder die Front weiter auszudehnen und für die Verteidiger auszudünnen. „Die Idee ist also, dass die Ukrainer ihnen einfach einen Schritt voraus waren“, sagt Ledwidge gegenüber NBC. Möglicherweise ist die Ukraine auch ein großes Risiko eingegangen, um den Spieß umzudrehen.
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Die Financial Times berichtet, dass die ukrainischen Kommandeure ihr Konzept „der ,aktiven Verteidigung‘ überdenken“, da sie dafür zu wenige Kräfte hatten. „Ist es wirklich besser, jeden Zentimeter ukrainischen Territoriums zu verteidigen, egal was passiert? Oder wäre es nicht besser, sich von bestimmten exponierteren Positionen zurückzuziehen?“, fragt Franz-Stefan Gady, Analyst des Thinktank International Institute for Strategic Studies. Selbst wenn dies bedeute, Territorium aufzugeben, könnte es helfen, begrenzte Truppen zu erhalten und letztlich die Verteidigung zu stärken, sagte der Analyst des Thinktank International Institute for Strategic Studies gegenüber der FT.
Das ISW berichtet, dass russische Spezialeinheiten nach Kursk entsandt werden, um die „Durchbruchszone zu säubern“. „Mehrere russische Militärblogger drückten ihre Überzeugung aus, dass die russischen Speznas-Streitkräfte wahrscheinlich die fähigsten russischen Streitkräfte seien, um auf das mechanisierte Manöver der Ukraine zu reagieren“, schreibt das ISW. „Speznaz“ sind speziell ausgebildete Elite-Kämpfer, die grob mit Einheiten wie den US-amerikanischen Navy Seals vergleichbar sind.
Putins Armee im Ukraine-Krieg: „Die am besten ausgebildeten Kämpfer verschlissen“
Die Washington Post berichtete bereits im vergangenen Jahr, dass auch diese Einheiten aufgrund der verlustreichen russischen Taktik inzwischen stark ausgedünnt sind: „Die rasche Erschöpfung der russischen Kommandoeinheiten, so Beobachter, habe die Dynamik des Krieges von Anfang an verändert und Moskaus Fähigkeit, verdeckte Taktiken zur Unterstützung konventioneller Kampfhandlungen einzusetzen, stark eingeschränkt“, schreibt Alex Horton.
Dabei bezieht sich der Post-Autor auf offizielle Quellen des US-Miltärs, die den Einsatz der Spezial-Kräfte seit Ausbruch des Krieges im Februar 2022 verfolgt hatten und sicher waren, „dass die erschütternden Verluste dieser Einheiten sie weniger effektiv machen werden“, so die Post. Möglicherweise beruht der Verzicht auf Verstärkung der Front in Kursk durch starke Kräfte aus dem Raum Charkiw auf der Tatsache, dass Wladimir Putin die effektiven Kräfte schlichtweg ausgehen.
Rob Lee, Analyst des Thinktank Foreign Policy Research Institute, sagt gegenüber der Post: „Die russischen Kommandeure hatten die am besten ausgebildeten Kämpfer verschlissen und damit vom Beginn der Invasion bis zum vergangenen Herbst die wertvollen Fähigkeiten dieser Truppen, darunter die Fähigkeit zur Informationsbeschaffung und Aufklärung, verloren“. Bereits der verlustreiche und letztendlich verlorene Kampf um Kiew zu Beginn des Krieges hatte Russland seine erfahrensten Kräfte gekostet.
Der Experte des Thinktank Foreign Policy Research Institute ist der Ansicht, dass nicht nur Eliteeinheiten der Luftlandetruppen und Marineinfanterie, sondern auch die Speznas-Einheiten durch den hartnäckigen Widerstand der Ukrainer einen Großteil ihrer numerischen Stärke eingebüßt haben.
Gerüchte russischer Militärblogger: Schwächung der Charkiw-Front ein notwendiges Opfer
Das Institute for the Study of War ist sicher, dass Moskau außerstande sei, schnell Kräfte in die Region Kursk zu schicken. Ein russischer Militärblogger behauptet, Teile des 44. Armeekorps der russischen Nordgruppierung, die zum Militärbezirk Leningrad gehören, würden in der Nähe der Stadt Rylsk im Bezirk Kursk eingesetzt. Dies könnte darauf hindeuten, dass die russische Militärführung gezwungen sein könnte, ihre Offensivkräfte im Raum Charkiw zu reduzieren, indem diese Einheit untypischerweise in Richtung Kursk verlagert wurde. Wenn die Aussagen des Militärbloggers zutreffen, könnte dies darauf hindeuten, dass das russische Militärkommando diese Operation als wichtiger als die in der Ukraine einstuft, so die Einschätzung des ISW.
Die Unterbrechung der Charkiw-Offensive durch Abzug von Truppenteilen würde dann anscheinend ein notwendiges Opfer darstellen und das Momentum aus Russlands Bemühen um die Errichtung einer Pufferzone nehmen. Scheinbar hat die Initiative der Ukraine einen Blick hinter die Kulissen der Militärmacht Russland erlaubt, behauptet Daniel Fried: In einem Krieg, in dem angeblich die Transparenz des Gefechtsfelds herrsche, sei den Ukrainern der Überraschungseffekt gelungen; der habe das Versagen der russischen Geheimdienste und Russlands Schwäche entlang der russischen Grenze demonstriert, sagte der Analyst des Thinktank Atantic Council.
Fried ist der Meinung: „Der Angriff stellt damit die Erzählung des Kremls vom unvermeidlichen russischen Sieg auf den Kopf, die die Kreml-Propaganda in Europa und den Vereinigten Staaten einsetzt, um ihr Argument zu untermauern, dass ukrainischer Widerstand sinnlos und Unterstützung für die Ukraine vergeblich sei“. (Karsten Hinzmann)