„Habe immer wieder seine Finger gezählt“ – Vermummte machen für Putin Jagd auf Zivilisten in der Ukraine

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Tausende Ukrainer verschwinden in russischen Lagern. Eine junge Frau kämpft entschlossen um ihren Mann – und klammert sich an ein Lebenszeichen.

Berlin – Liusiena Zinovkina wischt mit dem Finger durch die Vergangenheit. Hunderte Fotos ziehen auf dem Handy-Bildschirm vorbei – Bilder aus der Zeit, in der noch alles gut war: Kostya und sie beim Tanzen. Kostya mit lockiger Mähne und Gitarre. Und schließlich beide Hand in Hand am Meer, kurz nach der Hochzeit. Stolz halten sie die neuen Eheringe in die Kamera.

Das jüngste Bild: Kostya mit kahlrasiertem Schädel in einem Käfig. Er sieht blass aus. Es ist ein Screenshot aus einer Propagandasendung des russischen Staatsfernsehens. Der junge Mann ist einer von Tausenden Zivilisten, die die russischen Invasoren in der Ukraine verhaftet und eingekerkert haben. Das Video zum Screenshot hat Zinovkina oft angeschaut. „Ich habe immer wieder seine Finger gezählt und war froh, dass alle noch dran sind“, sagt Zinovkina. Einzig der Ehering ist nicht zu sehen. Ein Sprecher nennt ihren Mann im Video einen geisteskranken Attentäter und einen Zombie, weil Kostya die Ukraine als unabhängigen Staat bezeichnet. Der Beitrag lief vor einigen Monaten zur Primetime im russischen TV.

Putins Häscher machen Jagd auf Zivilisten in der Ukraine: Tausende in Gefangenenlager

Liusiena Zinovkina zieht die Augenbrauen zusammen, während sie erzählt. Zwischendurch entschuldigt sie sich, wenn ihr mal ein deutsches Wort nicht einfällt. Dabei beherrscht sie die Sprache ausgezeichnet. Das Gesicht der jungen Frau sieht hinter der großen Brille schmaler aus als auf den Handy-Fotos. Sie wirkt erschöpft beim Treffen in Berlin, kommt gerade vom Job. Die 33-Jährige hat in der Ukraine Psychologie und Sozialpädagogik studiert, hilft hier eingewanderten Familien bei der Integration. „Das lenkt mich ab“, sagt sie, hält kurz inne und dreht den Ehering am Finger: „Dabei bräuchte ich selbst Hilfe, damit ich nicht verrückt werde.“

Die Ukrainerin Luisiena Zinovkina kämpft für die Freilassung ihres Mannes.
Die Ukrainerin Liusiena Zinovkina kämpft für die Freilassung ihres Mannes. © Peter Sieben

Als die russischen Panzer 2022 in die Ukraine rollten, war Kostya nicht bei ihr in Kiew, sondern zu Besuch bei der Mutter und der kranken Großmutter in Melitopol im Südosten der Ukraine. „Ich soll so schnell wie möglich weg, hat er gesagt, und dass er nachkommt“, erzählt Zinovkina. Sie fuhr nach Berlin, kam bei Freunden unter. Er blieb, wollte Mutter und Großmutter nicht hilflos zurücklassen – und verschwand dann ganz. Kurz vorher seien Männer in Masken plötzlich in der Wohnung von Kostyas Mutter aufgetaucht, hätten sich nach ihm erkundigt. Im Mai 2023 schließlich nahmen sie ihn mit und sperrten ihn ein. Seit Jahren kämpft seine Frau entschlossen um seine Freilassung.

Misshandlungen und Folter in russischer Gefangenschaft: „Kommt Verschwindenlassen gleich“

Rund 14.000 Zivilisten sind ukrainischen Ermittlungen zufolge illegal festgenommen und in Gefangenenlager gesteckt worden. Laut Beobachtern und Zeugen machen Putins Häscher regelrecht Jagd auf Zivilisten. Das Ziel: Die Zivilbevölkerung mürbe machen, den Widerstandsgeist brechen.

Bilder von Liusiena und Kostya
Bilder aus glücklicheren Tagen – vor dem Ukraine-Krieg, und bevor Kostya plötzlich verschwand. © privat

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. „Die russischen Besatzungsbehörden in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine inhaftieren ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten willkürlich und ohne faires Gerichtsverfahren“, sagt ein Amnesty-Sprecher auf Anfrage. „Sie werden oft über längere Zeit ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, misshandelt und gefoltert. Die russischen Behörden geben oft keine Auskunft über den Verbleib der Zivilisten oder bestätigen ihre Inhaftierung nicht, was Verschwindenlassen gleichkommt.“

Kostya Zinovkin – vorgeführt im russischen Propaganda-TV.
Kostya Zinovkin – vorgeführt im russischen Propaganda-TV. © privat

Manche der Entführten tauchen nach ein paar Monaten wieder auf. Kostya nicht. Seine Frau schreibt E-Mails an die Polizei, an Behörden, sogar nach Moskau. Erst Wochen nach seinem Verschwinden gibt es so etwas wie ein Lebenszeichen: Ihr Mann stehe unter Terrorverdacht und sitze in Untersuchungshaft, heißt es in einer Mail. Später dann Briefe, von Kostya selbst. Liusiena Zinovkina zeigt die Schreiben: Zwischen die Buchstaben sind immer wieder Herzchen gemalt. Sie soll sich keine Sorgen machen, schreibt Kostya. Und Liusiena lächelt jetzt. „Ich bin stolz auf Kostya“, sagt sie. „Er lässt sich nicht von ihnen brechen.“

Gefangenenaustausch zwischen Russland und Ukraine

Zuletzt hatte sie gehofft, dass ihr Mann im großen Gefangenenaustausch „1000 gegen 1000“ zwischen der Ukraine und Russland freikommt. In den drei Jahren der russischen Invasion fanden bisher 61 solcher Austausche statt. Insgesamt wurden 4.131 Menschen aus russischer Gefangenschaft freigelassen. Darunter waren nach Auskunft der Internationalen Gemeinschaft für Menschenrechte 3.958 Militärangehörige und 173 Zivilisten.

Kostya Zinovkin war nicht darunter. Inzwischen hat ein Prozess gegen ihn begonnen, die Termine werden ständig verschoben. Erst Mitte Juni soll es weitergehen. Briefe von Kostya bekommt Liusiena Zinovkina jetzt seltener. „Vielleicht kommen die Zensoren mit der Bearbeitung nicht hinterher“, mutmaßt sie und dreht den Ehering am Finger.

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