Norwegen bereitet Gesundheitssystem auf Kriegsszenario vor: „Bei Bedarf drastische Maßnahmen ergreifen“
Das deutsche Gesundheitssystem wäre im Kriegsfall überfordert, sagen Kritiker. Ein Blick in die nordischen Länder kann Aufschluss über nötige Maßnahmen bringen.
Es ist ein Szenario, über das viele Jahre lang niemand ernsthaft nachgedacht hat. Doch spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird die Frage in Westeuropa immer lauter: Was, wenn Putin angreift? Russland stockt seine Kriegsreserven schneller wieder auf als gedacht. Beobachter sprechen von einem „Weckruf“.
Die Bundesregierung hat längst reagiert, ein Sondervermögen soll die Bundeswehr stärken. Indes: Das Gesundheitssystem würde im Kriegsfall schnell zusammenbrechen, beklagte jüngst das Deutsche Rote Kreuz im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Deutschland sei nicht ausreichend auf einen hypothetischen Kriegsfall oder eine andere große Krise vorbereitet.
NATO-Länder Norwegen, Schweden, Finnland: Auf Angriff durch Putin vorbereitet

Vorbild könnte Europas hoher Norden sein. Die NATO-Länder Finnland, Schweden und Norwegen haben unter dem Stichwort „Total Defence“ Verteidigungsstrategien entwickelt, die auch den Zivilschutz miteinbeziehen. Vor allem Norwegen, das eine gemeinsame Grenze mit Russland hat und lange Zeit Wert auf eine gute Beziehung zum Nachbarn legte, gibt sich inzwischen wehrhaft. „Russland ist die größte Bedrohung für die norwegische und europäische Sicherheit“ sagte Norwegens Verteidigungsminister Bjørn Arild Gram vor wenigen Monaten im Interview mit unserer Redaktion deutlich. Bis 2036 will die Regierung 600 Milliarden Kronen mehr für die Verteidigung ausgeben, das entspricht über 50 Milliarden Euro. Das NATO-Zwei-Prozent-Ziel, das eigentlich erst für 2026 angepeilt war, ist damit schon jetzt erreicht.
Das „Total Defence“-Konzept betrifft auch das Gesundheitssystem, wie Usman Ahmad Mushtaq, Staatssekretär im norwegischen Ministerium für Gesundheit und Pflege, IPPEN.MEDIA sagt: „Wir müssen unsere Kapazitäten für den Umgang mit gesundheitlichen Notfällen jedoch weiter stärken, um sicherzustellen, dass wir auf künftige Krisen besser vorbereitet sind.“
„Total Defence“ betrifft auch das Gesundheitssystem im Fall einer Attacke durch Russland
Die norwegischen Gesundheitsdienste seien auf Notfälle vorbereitet und verfügten über die entsprechende Ausbildung und Erfahrung im Umgang mit Massenopfern, so der Arbeiterpartei-Politiker. In einem Whitepaper hatte das Gesundheitsministerium bereits 2023 konkrete Maßnahmen formuliert. Denn: Militärische Konflikte seien komplexer und ihr Management unterscheide sich von nichtmilitärischen Krisen oder Sicherheitskrisen deutlich, so Mushtaq. „Es kann notwendig sein, alle verfügbaren Gesundheitsressourcen in Norwegen einer gemeinsamen nationalen Verwaltung zu unterstellen, um die verfügbaren Ressourcen wie Personal, Transportmittel, Land, Arzneimittel und Ausrüstung bestmöglich zu nutzen und zu koordinieren.“
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Das werde sowohl private als auch öffentliche Dienstleister einschließen. „Das Gesundheitsvorsorgegesetz und andere Gesetze zur Gesundheits- und Notfallvorsorge enthalten die notwendigen rechtlichen Bestimmungen, um bei Bedarf solche drastischen Maßnahmen zu ergreifen“, erklärte der Staatssekretär.
NATO-Land Schweden übt Logistik: Falls Putin angreift
Auch in Schweden lautet das Stichwort „totalförsvar“, „Komplettverteidigung“ – die eben nicht nur das Militär betrifft. Besonders seit 2020 steht die „zivile Bereitschaft“ im Fokus, wie eine Sprecherin der zuständigen Regierungsbehörde „Socialstyrelsen“ IPPEN.MEDIA erklärt. Einerseits geht es dabei um Vorräte an Schutzausrüstung und medizinischem Gerät, um zentral koordinierte Notfallpläne in den Regionen und Kommunen, um ein Investment-Programm für Krankenhäuser. Anderseits um Modelle zur „Priorisierung der Gesundheitsversorgung im Fall von knappen Ressourcen“, wie die Behörde erklärt. Bittere Debatten um „Triage“ hallen in Deutschland noch aus Corona-Tagen nach. In einem Kriegsfall könnte sie auf größerer Ebene relevant werden.
Schweden arbeitet weiter an seinem Konzept. Anfang September hat das noch recht frische Nato-Mitglied erstmals im eigenen Land ein Manöver geleitet. Es hieß „CAMO24“ – und betraf weniger Panzerbewegungen, denn medizinische und logistische Fragen: Geübt wurde eine Massenevakuierung samt Versorgung der Betroffenen. Im Oktober findet in der zweitgrößten Stadt Schwedens, Göteborg, zudem eine „nationale Katastrophenmedizin-Konferenz“ statt. Auch hier geht es um „Patientenströme“ und medizinische Versorgung im Nato-Rahmen, um „Lehren aus dem Ukraine-Krieg“. Und um ein typisch nordisch weitgedachtes Thema: „mentale Gesundheit“ als Teil der Komplettverteidigung.
Finnland hat Verteidigungskapazitäten nie reduziert
Finnland wiederum hatte als einziges Land der Ostseeregion seine Verteidigungskapazitäten ohnehin nie reduziert. Auch nicht nach dem Ende des Kalten Kriegs. Im Falle eines Angriffs könnten Streitkräfte eine Reservistenreserve von 280.000 Personen mobilisieren, bei gerade einmal 5,5 Millionen Einwohnern.