Suche nach Vermissten geht weiter - „Fühle mich wie in einem Traum“: Retter berichtet von Suche in Assads Folterknast
Herr Alselmo, am Sonntag wurde das Gefängnis Saidnaja in Syrien befreit. Human Rights Watch bezeichnete die Haftanstalt einst als „Schlachthaus“ des Assad-Regimes. Ihre Organisation war vor Ort.
Wir haben einen Anruf bekommen, dass die Rebellen das Gefängnis erreicht haben und schickten sofort mehrere spezialisierte Suchtrupps hin. Als wir ankamen, waren bereits viele Zivilisten vor Ort, Menschen auf der Suche nach ihren Verwandten und Freunden. Doch es wurden weit weniger Personen befreit als erwartet.
Warum?
Wir sind davon ausgegangen, dass noch Menschen in geheimen Teilen des Gefängnisses eingesperrt sind. Mit Spürhunden haben wir 20 Stunden lang den weit verzweigten Gefängniskomplex durchsucht.
Wurden weitere Personen gefunden?
Wir haben keine weiteren, versteckten Verliese gefunden. Neben Saidnaja gibt es in Syrien aber viele weitere Gefängnisse, eigentlich in jeder großen Stadt. Auch ich habe zwei Verwandte, die jetzt mutmaßlich befreit wurden. Sie waren seit 1982 im Gefängnis. Eine Bestätigung habe ich aber noch nicht.
Und neben den offiziellen Gefängnissen gibt es noch viele geheime Orte, an denen Menschen eingesperrt und gefoltert wurden. Deshalb haben wir eine Telefonnummer eingerichtet und Menschen dazu aufgerufen, sich bei uns mit Informationen zu melden.
Was war die Reaktion?
Wir haben in den vergangenen 24 Stunden etwa 3000 Anrufe bekommen und konnten davon rund 2000 entgegennehmen.
Unter dem Kinosaal ist ein Raum, in dem sind 20 Menschen.
Was haben die Menschen am Telefon erzählt?
Viele Personen, die sich bei uns gemeldet haben, sind auf der Suche nach vermissten Angehörigen. Mich hat eine Frau aus Deutschland angerufen. Ihre zwei Söhne wurden 2012 an einem Checkpoint des Regimes verhaftet. Seitdem hat sie nichts mehr von ihnen gehört. Sie hat von einem Ort geträumt, an dem ihre Kinder gefangen gehalten werden.
Ich habe mit einer anderen Mutter telefoniert, die am Telefon nur geweint hat. Bei solchen Fällen versuchen wir, emotionale Unterstützung zu geben. Und dann haben uns noch Anrufe von ehemaligen Gefangenen erreicht.
Was haben die gesagt?
Ein Mann uns angerufen und erklärt: In meinem Dorf gibt es ein Kino und unter dem Kinosaal ist ein Raum, in dem sind 20 Menschen. Ein anderer hat gesagt: Schaut unter dem Fußballfeld, auch dort werden Menschen gefangen gehalten. Ein ehemaliger Gefangener hat erzählt, dass er vom Geheimdienst verhaftet wurde und drei Monate in einem Munitionslager festgehalten wurde.
Ich hoffe darauf, dass sich noch Generäle oder Offiziere des Militärs bei uns melden.
Was machen Sie mit diesen Hinweisen?
Wir müssen so schnell wie möglich diese Orte überprüfen. In dem Foltergefängnis Saidnaja wurden die Gefangenen von den Wärtern in den Zellen zurückgelassen. Wir gehen davon aus, dass das auch in diesen kleineren Gefängnissen der Fall ist: Dass Menschen, ohne Essen und Trinken, in ihren Zellen eingesperrt sind. Es ist ein Rennen gegen die Zeit, diese Gefängnisse zu finden und die Menschen zu befreien, bevor es zu spät ist.
Haben sich auch Wärter oder Geheimdienstmitarbeiter gemeldet?
Unsere Hoffnung war, dass sich auch ehemalige Mitglieder des Assad-Regimes bei uns melden, denn die wissen natürlich am meisten über die Infrastruktur des Gefängnissystems. Das ist bis jetzt allerdings nicht passiert. Ich hoffe darauf, dass sich noch Generäle oder Offiziere des Militärs bei uns melden, dass sie über ihren Schatten springen und uns sagen, wo noch Menschen gefangen gehalten werden.
In den Gefängnissen wurde nur ein Bruchteil der Vermissten gefunden.
Was erwarten Sie von der Suche?
Man muss sich das so vorstellen: In Syrien werden etwa 200.000 Menschen vermisst, das ist keine offizielle Zahl, sondern eine Schätzung. Was allerdings klar ist: Die Zahl der Vermissten wird weiter ansteigen. Denn jetzt können auch Menschen in den befreiten Gebieten ihre Vermisstenmeldungen abgeben. Doch in den Gefängnissen wurde nur ein Bruchteil dieser Menschen gefunden.
Was ist mit den restlichen Vermissten?
Die Menschen werden entweder noch gefangen gehalten – oder sind tot. Wir geben die Hoffnung nicht auf. Aber was klar ist: Wir werden auch viele Massengräber finden.
Wie fühlen Sie sich?
Ich habe mit 28 Jahren angefangen, mich mit meinen Nachbarn in Aleppo zu organisieren, um erste Hilfe zu leisten. Das war vor 12 Jahren. Jetzt bin ich 40 und heute ist der glücklichste Tag meines Lebens.
Ich fühle mich gerade wie in einem Traum, aus dem ich nie wieder aufwachen möchte. Ich möchte einfach nur in Frieden und Würde leben. Und das größte Hindernis haben wir mit dem Sturz von Assad beiseite geräumt.
Von Moritz Matzner
Das Original zu diesem Beitrag "„Schaut unter dem Fußballfeld!“: Die Suche nach Assads geheimen Foltergefängnissen" stammt von Tagesspiegel.