Putin-Manöver im Herbst: Experten warnen die Nato vor „echter Kriegsgefahr“

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Während des Sapad-2021-Manövers schießen russische Panzerhaubitzen aus ihren Stellungen.
Sapad-2021: Die Streitkräfte Russlands und Belarus führen ihre alle zwei Jahre stattfindende gemeinsame strategische Übung auf Trainingsgeländen in beiden Ländern und in der Ostsee durch. Bei einer Übung stürmten Militärangehörige bei einem Kriegsspiel nahe Kaliningrad, nahe der russischen Grenze zur Europäischen Union, an Land (Achivfoto). © IMAGO / Sergei Savostyanov

Russland und Belarus spielen Krieg – den Russland nicht beherrscht. Die Meinungen schwanken zwischen extremer Gefahr und bloßer militärischer Routine.

Moskau – „Selbst die jüngste Übung bot keine ausreichende Vorbereitung auf den gegenwärtigen Konflikt in der Ukraine“, schrieben Giangiuseppe Pili und Fabrizio Minniti Mitte 2022. Die beiden Analysten untersuchten für den Thinktank Royal United Services Institute (RUSI) die russisch-belarusischen Manöver Sapad 2013 bis 2021 und kamen zu einer durchwachsenen Einschätzung – anders als Beobachter im Westen, die angesichts des anstehenden Sapad-2025-Manövers den baldigen Untergang des Abendlandes durch Wladimir Putins Invasionstruppen heraufziehen sehen.

„Vielleicht ist dieser Sommer der letzte Sommer, den wir noch im Frieden erleben“, äußerte beispielsweise Deutschlands profiliertester Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Uni Potsdam. Ihm zufolge würden Litauische Beobachter befürchten, für die Russen bedeutete das Manöver die Blaupause für eine Offensive auf das Baltikum. Und auch Sabine Adler warnte in der Talkshow von Caren Miosga vor einer „echten Kriegsgefahr“ für die Europäische Union und die Nato – nach Einschätzung des Deutschlandfunks sei Adler eine der renommiertesten journalistischen Kenner Osteuropas.

Ukraine-Krieg: „Die jüngsten Entwicklungen werfen Fragen über Vorbereitungen auf einen Konflikt auf.“

Pili und Minniti kamen zu einem anderen Ergebnis nach Ausbruch des Ukraine-Krieges – Russlands „Sapad“ (zu Deutsch: „Westen“)-Manöver seien angesehen worden als Beweis der Fähigkeiten des Landes, in großem Maßstab zu kämpfen, schreiben sie: „Doch die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine, wo die russischen Streitkräfte mit erheblichen logistischen und operativen Problemen konfrontiert sind, werfen ernsthafte Fragen über Moskaus Vorbereitungen auf einen größeren Konflikt auf.“ Bereits Mitte Februar hatte Belarus mittels der russischen Nachrichtenagentur Tass um Zurückhaltung nachgesucht. Die gemeinsame Übung Sapad-2025 von Belarus und Russland sei eine geplante Veranstaltung, die keine Bedrohung für andere Staaten darstelle, sagte Alexander Wolfowitsch, Staatssekretär des belarusischen Sicherheitsrats.

„Nachdem die Russen sich in der Ukraine eine blutige Nase geholt haben und wenn sie Glück haben, jeden Tag an irgendeinem Frontabschnitt zwei Kilometer vorrücken. Dass die jetzt ernsthaft davon träumen, einen Krieg gegen die Nato anzufangen. … Ich kann dir das nur sagen, Markus, und ich sage das aus aller tiefster Überzeugung: Das ist ein Märchen!“

Dariusz Materniak betrachtet das weniger gelassen. Dem Vorsitzenden der Stiftung Polnisch-Ukrainisches Forschungszentrum ist suspekt, dass die Hauptaktivitäten des diesjährigen Manövers von Mitte September an in Belarus liegen – wie er im Magazin Polska Zbrojna schreibt, hält er das Regime in Minsk „de facto für eine Konfliktpartei“ und das damit verbundene Bedrohungspotenzial sei nicht zu unterschätzen. Materniak bereitet Sorge, dass Belarus Bestandteil der Russischen Föderation sei und ein Manöver zum Synchronisieren von Truppen definitiv einen ernst zu nehmenden Grund haben muss.

„Nicht weniger wichtig ist, dass wir bedenken, dass derartige Übungen nicht nur auf Trainingsgeländen stattfinden und nicht nur die Übergabe der Ausrüstung oder das Schießen umfassen, sondern auch eine Kommandophase beinhalten, die die Planung und Ausarbeitung von Szenarien für künftige Aktionen einschließt“, so Materniak. Das beurteilen die beiden RUSI-Autoren Giangiuseppe Pili und Fabrizio Minniti genauso.

Ihnen zufolge führe die russische Armee routinemäßig zwei Arten von Militärübungen durch: jährliche strategische Kommandostabsübungen und Gefechtsbereitschaftsprüfungen. Diese Übungen dienten den russischen Streitkräften als Prüfung ihrer militärischen Einsatzbereitschaft, zur Verfeinerung operativer Konzepte, zum Praxistest neuer Ausrüstung und Technologien und vor allem zur Abstimmung ihrer Führungs- und Kontrollfähigkeiten. „Die bei diesen Übungen getesteten und ausgearbeiteten Konzepte spiegeln wider, wie das russische Militär zukünftige Militäreinsätze plant“, schreiben Pili und Minniti.

Putins Plan: Schlüsselelement von Sapad-2025 die Integration strategischer und taktischer Raketensysteme

Die Übungen des russischen strategischen Kommandostabs fänden ihnen zufolge am Ende des jährlichen Trainingszyklus der russischen Armee statt und demonstrierten den Stand „groß angelegter Projektions- und Einsatzfähigkeiten“. Wie Pili und Minniti aufschlüsseln, würden die Übungen im Vier-Jahres-Zyklus in verschiedenen russischen Militärbezirken durchgeführt – also auch im Westen.

Laut dem Medium 19fortyfive werden bei Sapad 2025 etwa 13.000 russische Soldaten auf belarussischem Territorium üben. Das Medium bezieht sich auf Waleri Rewenka, den Leiter der Abteilung für internationale militärische Zusammenarbeit im belarussischen Verteidigungsministerium. Dem Politik-Autor Niels Groeneveld zufolge sendet Sapad-2025 ein Signal sowohl nach innen wie nach außen. In Belarus selbst diene das Manöver dazu, externe Bedrohungen zu apostrophieren und Widerstand im Inneren zu dämpfen. Nach außen befürchtet er, dass Russland, wie er sagt, ein „Left-behind“-Szenario aufziehen könnte: also, dass Putin klammheimlich Truppen oder Ausrüstungsgegenstände in Belarus stationieren könnte.

„Ein solches Szenario würde das regionale Kräftegleichgewicht effektiv verändern, russische Streitkräfte in Schlagdistanz zu den östlichen Nato-Mitgliedern positionieren und Russlands strategische Tiefe in einem möglichen Konflikt mit dem Westen stärken“; schreibt Groeneveld auf seinem X-Kanal. Ein Schlüsselelement von Sapad-2025 sieht er in der Integration strategischer und taktischer Raketensysteme, zum Beispiel dem ballistischen Kurzstreckenraketensystem Iskander-M. Die Wirkung dieser Waffe in der Ukraine liegt sicher hinter den Erwartungen des Kreml.

Russlands Angst: Massive Operation und ein konventioneller Krieg als Reaktion auf eine alliierte Invasion

Sapad-2021 beschäftigte 200.000 Soldaten, mehr als 80 Flugzeuge und Hubschrauber, bis zu 760 Einheiten militärischer Ausrüstung, darunter mehr als 290 Panzer, Mehrfachraketenwerfer und 15 Schiffe, wie Giangiuseppe Pili und Fabrizio Minniti berichten. Ihrer Analyse zufolge basierte die Ausgangslage „auf einer massiven Operation und einem konventionellen Krieg als Reaktion auf eine alliierte Invasion durch drei verschiedene Länder, ähnlich den baltischen Staaten und Polen. Auf taktischer Ebene wurden große Einheiten in komplexen gemeinsamen Truppenoperationen eingesetzt, was bedeutet, dass die Übungen als das eigentliche Vorspiel zum aktuellen Konflikt in der Ukraine interpretiert werden könnten“, wie sie schreiben.

Das Ergebnis ist bekannt. In der Spezialoperation konnten russische Truppen nicht einmal den Nachschub sicherstellen, geschweige denn ihre vorrückenden Truppen gegen Feindfeuer sichern. Die Invasion ist im Keim erstickt. Und im mittlerweile vierten Kriegsjahr stellt sich ein militärisch minderbemitteltes Volk weiterhin unnachgiebig einer der größten Armeen der Welt entgegen. Natürlich scheint Wladimir Putins Imperialismus auch mindestens die baltischen Staaten zu bedrohen – und natürlich könnte dieser Sommer der letzte Sommer in Frieden sein; aber aus einem Manöver einen kommenden Weltkrieg zu definieren, ist durchaus eine steile These.

Illusion Offensive: „Ich sage das aus aller tiefster Überzeugung: Das ist ein Märchen!“

Möglicherweise aber soll das Manöver die Kräfte außerhalb der Front auf ein Kriegsszenario konditionieren. „Stellungen gehen selten verloren, weil sie zerstört wurden, sondern fast immer, weil der Anführer in seinem eigenen Kopf entschieden hat, dass die Stellung nicht gehalten werden kann“, schrieb Alexander A. Vandegrift, der in den 1950er-Jahren General des US Marine Corps war. Wie das US Marine Corps 2019 aus seinem Operational Handbook über den Bewegungskrieg veröffentlichte, solle der Kommandant taktische Entscheidungen dezentralisieren und Befehle schneller an die einzelnen Trupps weitergeben – allein das ermögliche das notwendige operative Tempo. Eine Erkenntnis, die die russischen Befehlsstrukturen im Ukraine-Krieg oft genug ignoriert haben.

Sapad-2025 stelle einen entscheidenden Moment in der sich verschärfenden Sicherheitsarchitektur eines sich neu definierenden Osteuropas dar, vermutet Autor Groeneveld. Obwohl sie offiziell als routinemäßige Militärübungen beschrieben werden, seien die Übungen „tief in die strategischen Berechnungen Russlands und Belarus eingebettet“ und spiegelten umfassendere geopolitische Ziele und Sicherheitsbedenken wider. Richtig. Das ist das, wofür Manöver abgehalten werden, andernfalls wären sie sinnlos. Sapad-2025 sei ein strategisches Statement, das das sich verändernde Kräfteverhältnis in Osteuropa unterstreicht, behauptet Groeneveld. Richtig. Aber auch die westlichen Armeen üben regelmäßig ihr Miteinander.

Der Westen zitiert demgegenüber den Philosophen Richard David Precht aus seinem Podcast mit dem Journalisten Markus Lanz „Nachdem die Russen sich in der Ukraine eine blutige Nase geholt haben und wenn sie Glück haben, jeden Tag an irgendeinem Frontabschnitt zwei Kilometer vorrücken. Dass die jetzt ernsthaft davon träumen, einen Krieg gegen die Nato anzufangen. … Ich kann dir das nur sagen, Markus, und ich sage das aus aller tiefster Überzeugung: Das ist ein Märchen!“

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