Eskalation mit Putin? - Scholz und die Taurus-Angst: Die zwei großen Sorgen des Kanzlers im Check
Viel wurde vergangene Woche über den erstmaligen Einsatz einer russischen Mittelstreckenrakete gegen die überfallene Ukraine berichtet.
Der russische Machthaber Wladimir Putin ließ sie offenbar als Reaktion auf ukrainischen Beschuss mit weitreichenden ATACMS-Raketen aus den USA und Storm-Shadow-Marschflugkörpern aus dem Vereinigten Königreich abfeuern. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dürfte sich durch die russische Eskalation bestärkt sehen.
Denn Deutschland lehnt die Lieferung von Marschflugkörpern der Marke Taurus schon lange ab. Nach wie vor sieht der Kanzler „viele Gründe“ gegen die Lieferung. Öffentlich begründete er sein Nein mit der Sorge vor einer weiteren Eskalation des Angriffskrieges, zwei Punkte scheinen ihm dabei wichtig zu sein:
- Die Ukraine könnte mit den schlagkräftigen Taurus unter Umständen bis in die russische Hauptstadt schießen, meinte Scholz im Februar bei einem Bürgerdialog in Dresden nach Darstellung von „n-tv.de“.
- Ein weiteres Problem scheint die Zielprogrammierung zu sein – Scholz sorgt sich offenbar, dass eine Mitwirkung deutscher Spezialisten daran von Russland als Kriegsbeteiligung gewertet werden könnte.
Zumindest bisher liefert die Ukraine keinen Anlass, davon auszugehen, dass sie andere Ziele ins Visier nehmen will als Militärinfrastruktur im russischen Hinterland, die andernfalls unerreichbar ist. Der erste Angriff mit US-amerikanischen ATACMS-Raketen auf Russland richtete sich – nach Angaben aus Moskau – gegen eine Militäreinrichtung in der Grenzregion Brjansk.
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Mit britischen Storm-Shadow-Marschflugkörpern wurde offenbar eine Kommandozentrale für die russisch-nordkoreanischen Truppen in Kursk ins Visier genommen, behaupteten russische Militärblogger.
Wie groß ist also die von Scholz heraufbeschworene Gefahr, mit den weitreichenden Waffen aus Deutschland die symbolträchtige russische Hauptstadt zu treffen? Und könnte die Ukraine die Taurus ohne deutsche Hilfe einsetzen?
Fakten zum Taurus
- Es handelt sich um einen Marschflugkörper, der Sprengsatz wird mit Antrieb und selbstständiger Steuerung zum programmierten Ziel navigiert.
- Die Zerstörungskraft ist groß, der Sprengkopf ist gegen Bunker und Brücken wirkungsvoller als es die Storm Shadow sind.
- Die Ukraine würde Kampfflugzeuge des Typs Su-24 oder F-16 zum Abfeuern der Taurus nutzen.
Könnte die Ukraine mit den Taurus bis nach Moskau schießen?
Von der nördlichen Landesgrenze zwischen der Ukraine und Russland bis in den Kreml im Zentrum Moskaus sind es ungefähr 450 km bis 500 km Luftlinie. Betrachtet man die öffentlich bekannte Reichweite der Taurus-Marschflugkörper von 500 km, wäre ein Angriff auf Moskau daher theoretisch möglich. Vor allem, wenn „Moskau“ als Großraum gesehen wird und zum Beispiel die zugehörige, südlich gelegene Stadt Podolsk das Ziel wäre.
Doch das Angstszenario eines Angriffs auf Moskau erscheint trotzdem wenig wahrscheinlich. Das hat zum einen mit der tatsächlichen Reichweite der Taurus zu tun. Sie wird geheim gehalten, sagt Militärexperte Gustav Gressel, ein österreichischer Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Osteuropa. Die Reichweite der Taurus-Marschflugkörper sei aber ungefähr gleich wie die der britischen Storm Shadows, vermutet Gressel. Das reiche wohl nicht bis in die Stadt Moskau. Die dpa gibt die Reichweite der Storm Shadows mit „mehr als 250 km“ an.
Dazu käme ein weiteres Problem, das man nicht erkennt, wenn man nur Linien auf Karten zieht. Zu beachten ist: Die Ukraine würde Taurus von Kampfflugzeugen aus verschießen. Doch es wäre für die ukrainische Luftwaffe unklug, mit ihren Jets zu nah an die russische Grenze heranzufliegen. Dort wartet nämlich die feindliche Fliegerabwehr.
Russische Jagdflugzeuge „haben schon ukrainische Kampfflugzeuge aus Distanzen bis zu 190 km abgeschossen“, sagt Gressel. Darum würde die Ukraine die Storm Shadows derzeit vorsichtshalber aus einer Distanz von 100 bis 200 km hinter der Frontlinie aus abfeuern. Zumindest die Stadt Moskau erscheint da auch für Taurus-Marschflugkörper unerreichbar, selbst wenn man ihre Reichweite großzügig mit 500 km bemisst.
„Niemand will Taurus nach Moskau schießen“
So sieht es auch Militärexperte Nico Lange, der für die Zeitenwende-Initiative bei der Münchner Sicherheitskonferenz arbeitet. Er gibt außerdem zu bedenken: „Niemand will Taurus nach Moskau schießen, es ist militärisch nicht notwendig. Das ist ein unsinniges Argument, um Ängste bezüglich einer Lieferung auszulösen.“
Könnte die Ukraine die Zielprogrammierung der Taurus ohne deutsche bzw. westliche Hilfe vornehmen?
Die andere Sorge betrifft eine direkte Beteiligung Deutschlands am Ukrainekrieg. Der Kreml könnte sie als Eskalation werten, so die oft formulierte Vermutung. Aber wie würde sich Deutschland durch eine Taurus-Lieferung überhaupt am Krieg beteiligen?
Hier muss unterschieden werden zwischen erstens der Ausbildung ukrainischer Spezialisten und zweitens dem späteren Kriegseinsatz der Marschflugkörper.
- Das Training müsste vom Rüstungsunternehmen MBDA Deutschland durchgeführt werden, meint Gressel. Die künftigen ukrainischen Flugprogrammierer, die die Marschflugkörper direkt vor Start mit Zielkoordinaten bestücken, würden ihre Arbeit in einem Simulator lernen.
- Gressel nach sei das aber bei jeder komplizierteren Waffe so. „Wir haben die Ukrainer ja auch an IRIS-T ausgebildet (Luft-Luft-Lenkflugkörper), und ihnen nicht einfach das Ding über die Grenze geworfen.“
- Die konkrete Missionsprogrammierung im Krieg müsste die ukrainische Armee dann selbst ausführen, so wie zum Beispiel bei den Storm Shadows auch. Deutschland wäre nicht mehr beteiligt.
Wiederum werden also in der Diskussion um eine deutsche Beteiligung an Taurus-Einsätzen Ängste geschürt, meint Nico Lange. „Möglicherweise könnten nicht alle Potenziale des Taurus vollständig ausgenutzt werden, aber ein Einsatz nur durch die Ukrainer selbst ist möglich.“
Doch Scholz kann sich bei seiner Ablehnung der Taurus-Lieferung auf eine aktuelle Bevölkerungsmehrheit stützen. 61 Prozent sprechen sich in einer Infratest-Umfrage gegen die Lieferung aus.
Der russische Diktator Wladimir Putin schürt unterdessen mit Drohgebärden weiter die westliche Angst vor Eskalation. Die am Donnerstag auf die ukrainische Stadt Dnipro abgefeuerte Mittelstreckenrakete soll eine Strecke von 800 km zurückgelegt haben. Das Modell kann auch einen Atomsprengkopf tragen. (mit Reuters)
Von Tobias Mayer
Das Original zu diesem Beitrag "Scholz und die Taurus-Angst: Könnten die deutschen Marschflugkörper wirklich Moskau erreichen?" stammt von Tagesspiegel.