Herzchirurg im Interview - „Bin deutscher als viele“: Flüchtling entlarvt Denkfehler in unserer Migrationsdebatte
FOCUS online: Wie fühlt sich jemand, der selbst als Flüchtling nach Deutschland kam, wenn sich ein Anschlag wie zuletzt der in Aschaffenburg ereignet?
Umeswaran Arunagirinathan: Oder der in Magdeburg. Oder Mannheim, Berlin, Fulda… Neben dem Entsetzen und der Wut treibt mich eine Frage um. Was machen wir falsch in Deutschland? Vielleicht frage ich mich das sogar mehr als die meisten.
Warum sollten Sie sich das mehr fragen?
Umes: Es gibt einen Grund, warum ich damals nach Deutschland gekommen bin. Ich habe dieses Land ganz bewusst ausgewählt. Ich kam aus Sri Lanka, dort tobte ein Bürgerkrieg. Ich wusste nie, ob ich die nächsten Tage überleben würde.
In meiner Heimat gab es keine Freiheit, keine Demokratie. Ich hatte keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Deutschland hat mir all das ermöglicht. Alles, was ich in Sri Lanka vermisst habe, habe ich hier gefunden. Ich bin stolz, Bürger dieser Nation zu sein!
„Das Narrativ vom ‘gefährlichen Migranten’ ist groß wie nie“
Stolz – aber auch wütend, wie Sie gerade gesagt haben?
Umes: Ja, deshalb auch die Frage: Was machen wir falsch? Zunächst: Als deutscher Staatsbürger möchte natürlich auch ich in Sicherheit leben. Nach Aschaffenburg habe ich viel an meine beiden Patenkinder gedacht, die übrigens zufällig weiß sind. Es kann nicht sein, dass die beiden in Gefahr sind, wenn sie draußen unterwegs sind.
Also, kommen wir zur Wut. Die richtet sich bei mir gegen die Menschen, die diese Attentate verübt haben. Aber auch gegen die, die diese Schreckenstaten möglicherweise hätten verhindern können.
Bei jedem der Attentate hatte ich sofort diesen Gedanken: Das ist sicher wieder jemand, der bereits aufgefallen ist. Und jedes Mal hat es sich bestätigt!
Soll heißen?
Umes: Für mich sind Behördenversagen und falsche oder fehlende Weisungen der Politik das Kernproblem. Meine Wahrnehmung ist allerdings: Die meisten Menschen reden derzeit lieber über „Ausländer“. Das Narrativ vom „gefährlichen Migranten“ ist groß wie nie.
Ich bin ehrlich, nach Aschaffenburg war einer meiner Gedanken auch dieser: Ausgerechnet jetzt! So kurz vor einer Wahl ist ein solcher Anschlag ein gefundenes Fressen für die populistische Meinungsbildung. Und wir sehen ja, was passiert. Die sogenannte Migrationsdebatte wird extrem einseitig geführt.
Neben seiner Tätigkeit als Herzchirurg an der Universitätsklinik Halle an der Saale schreibt Dr. med. Umeswaran Arunagirinathan Bücher – über das deutsche Gesundheitssystem („Der verlorene Patient“, Rowohlt Polaris), über seine Flucht als Familie aus dem Bürgerkriegsland Sri Lanka („Alleine auf der Flucht“ und „Der fremde Deutsche“ – beide Titel Konkret Literatur Verlag -) oder über Integration: „Grundfarbe Deutsch“ (Rowohlt Polaris) - warum ich dahin gehe, wo die Rassisten sind.“
„Ums Thema Migration gäbe es auch sehr viel Positives zu berichten“
Was genau meinen Sie?
Umes: Naja, ums Thema Migration gäbe es ja auch sehr viel Positives zu berichten. Ich habe zahlreiche ausländische Ärzte in meinem Freundeskreis. Ein großer Teil von ihnen ist im Osten Deutschlands in Krankenhäusern tätig, einige arbeiten als Internisten, andere wie ich als Herzchirurgen. Viele sind in Bereichen, wo Leben gerettet wird.
Stellen Sie sich die Geschichte über einen Flüchtling vor, der einer jungen Mutter durch eine Herz-OP das Leben gerettet hat. Das würde die Menschen berühren. Aber diese Geschichten hören wir nicht.
Während die Polizei 2018 mehr als doppelt so viele deutsche wie ausländische Tatverdächtige erfasste, kommen in der Fernsehberichterstattung mehr als acht und in dem Zeitungsbericht mehr als 14 ausländische Tatverdächtige auf einen deutschen Täter. Eine drastische Verzerrung!
Ist es nicht verständlich, wenn kriminelle Handlungen von Menschen, die hier in Deutschland viel Unterstützung erfahren, besonders übel aufstoßen und entsprechend öffentlich gemacht werden?
Umes: Schon, aber wir müssen auch sehen, wie Migranten ihrerseits helfen und unterstützen. Stellen Sie sich nur einmal den Osten Deutschlands im medizinischen Bereich ohne all das zugewanderte Personal vor. Ich sage Ihnen: In vielen Krankenhäusern würde direkt das Licht ausgehen. Ich denke da unter anderem an die zahlreichen kompetenten syrischen Ärzte, die wir gewonnen haben. Leute, für deren Studium wir übrigens nicht einen einzigen Cent bezahlt haben…
Die ganzen Beispiele, die Sie aufzählen, haben sicher ihre Berechtigung. Aber Sie machen Aschaffenburg oder Magdeburg nicht ungeschehen. Haben Sie die Debatten vergangene Woche im Bundestag verfolgt?
Umes: Natürlich, ich bin politisch interessiert. Und ich wusste, dass diese Debatte kommen würde und dass es mich persönlich besonders betreffen wird.
„Als Mann mit dunkler Hautfarbe bin ich mehr gefährdet als andere Deutsche“
Inwiefern fühlen Sie sich „besonders betroffen“?
Umes: Vor kurzem habe ich mit einer guten Freundin, ebenfalls Ärztin, überlegt, ob wir in der Schweiz nicht besser aufgehoben wären. Aufgrund der schärferen Gesetzeslage in Bezug auf Abschiebungen kriminell gewordener Zuwanderer würde ich mich dort im Moment vermutlich sicherer fühlen.
Ich bin deutscher Staatsbürger, insofern bin ich da natürlich miteingeschlossen, wenn wir in diesen Tagen über die Sicherheit „der Deutschen“ sprechen. Aber als Mann mit dunkler Hautfarbe, der dazu noch homosexuell ist, bin ich natürlich ungleich mehr gefährdet als andere Deutsche.
Das ist ja das Verrückte: Die Taten einzelner Irrer katapultieren mich in eine Gruppe, der ich eigentlich nicht zugehöre. Ich bin kein Ausländer, sage ich immer – aber so oft wie zuletzt musste ich das vorher nie betonen. Und das geht nicht nur mir so.
Was meinen Sie?
Umes: Viele, die ich kenne, haben Angst. Ein guter Freund, auch dunkelhäutig, musste sich neulich sagen lassen: Du wirst schon sehen, was nach dem 23. Februar passiert. Solche Äußerungen wären vor einigen Jahren undenkbar gewesen!
Vor einigen Jahren gab es aber auch noch nicht diese schrecklichen Anschläge.
Umes: Populismus darf nicht die Antwort auf die Probleme im Land sein! In der populistischen Sprache gibt es keine Differenzierung. Da sagt keiner Sachen wie: Ich möchte hier in Deutschland Menschen sehen, die sich als Mitglied der Gesellschaft fühlen.
„Ich stimme zu: Unkontrollierte Migration ist ein Problem“
Ist das von Ihnen?
Umes: Ja, mit dem Zusatz „unabhängig von Herkunft und / oder Hautfarbe“. In der Tat ist der Wille zur Integration, zur aktiven Gestaltung nicht immer vorhanden, da brauchen wir nicht drumherum zu reden. Ich stimme zu: Unkontrollierte Migration ist ein Problem.
Dass Menschen ohne Pass kommen, meinen Sie?
Umes: Schwieriges Thema. Als ich mit zwölf Jahren nach Deutschland kam, hatte ich auch keinen Pass. Die Schlepper sagten mir, ich solle ihn vernichten.
Und das haben Sie getan?
Umes: Ja, noch im Flugzeug.
Mit welchem Hintergedanken?
Umes: Anhand meines Passes hätte man sehen können, dass ich über Afrika gekommen bin. Wahrscheinlich hätte man mich dorthin zurückgeschickt. Die Wahrheit ist: In Afrika wäre ich als Zwölfjähriger so ganz ohne Begleitung völlig verloren gewesen.
Sind Sie ganz alleine geflohen?
Umes: Ja, die Entscheidung, Sri Lanka zu verlassen, fiel innerhalb von 24 Stunden. Kurz bevor meine Mutter mich einem Schlepper übergab, war meine Schwester gestorben. An einer Nierenkrankheit, könnte man sagen. Aber auch: Im Bürgerkrieg, denn auch die Umstände waren dafür mitverantwortlich, dass meine Schwester es nicht geschafft hat.
Wie schwer es für meine Mutter war, mich für ein besseres Leben gehen zu lassen, kann man nur erahnen. Natürlich hatte niemand gedacht, dass die Flucht acht Monate dauern und ich meine Eltern erst 15 Jahre später wiedersehen würde. Gerade bin ich übrigens in Sri Lanka, bei meiner Familie. Seit das wieder möglich ist, komme ich oft her.
„Es ist richtig, Deutschland kann nicht jeden aufnehmen“
Wo kamen Sie damals in Deutschland unter?
Umes: Bei einem Onkel, in Hamburg. Dafür bin ich wahnsinnig dankbar. Dem Onkel und dem ganzen Land bin ich dankbar. Ich hatte Lehrer, die mir Mut gemacht und das Beste aus mir herausgeholt haben. Nur so konnte ich der werden, der ich heute bin.
Ein ehemaliger Flüchtling mit Musterbiografie. Deutschland hat allerdings nur begrenzt Kapazitäten, verfolgte und bedrohte Menschen aufzunehmen. Was sagen Sie dazu?
Umes: Es ist richtig, Deutschland kann nicht jeden aufnehmen. Daher ist es ja auch so wichtig, dass es EU-Regelungen gibt, nach denen die ankommenden Geflüchteten fair verteilt werden. Wir sind eine Union, das muss jeder Geflüchtete, der nach Europa kommt, akzeptieren.
Wichtig ist außerdem, dass wir mit dem Thema insgesamt endlich mal ehrlich umgehen. Zum Beispiel der Begriff illegaler Migration: Im Grunde ist jeder Geflüchtete illegal. Man hat schließlich keine Möglichkeit, im Heimatland zur Deutschen Botschaft zu gehen und dort einen Antrag auf Asyl zu stellen. Es hat also einen Grund, dass diese Anträge erst vor Ort gestellt werden.
Oder das mit den Pässen. Geflüchtete, die ihre Pässe entsorgen, pauschal als durchtrieben oder kriminell hinzustellen, ist nicht in Ordnung. Es gibt einen Grund, weshalb das geschieht.
Und der wäre?
Umes: Geflüchtete müssen im ersten EU-Land, das sie betreten, ihren Asylantrag stellen. Und in dieses Land können sie an jeder Grenze zurückgeschickt werden. Viele Lager sind eine einzige Katastrophe – ich denke, das ist bekannt.
Andererseits bezweifle ich, dass jemand, der in Deutschland mit all den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten aufgewachsen ist, sich vorstellen kann, was unsereins durchgemacht hat. Was es zum Beispiel bedeutet, sich mitten im Bürgerkrieg zu befinden. Da geht man nicht mal eben aufs Amt.
Wo stehen Sie? Bei den Menschen, die aus Not illegal nach Deutschland kommen oder bei denen, die sich ein härteres Vorgehen gegen unkontrollierte Migration wünschen?
Umes: Ich stehe weder nur hier noch nur dort. Wie gesagt: Wir brauchen viel mehr Differenzierung, wenn wir konstruktive Lösungen für die enormen Herausforderungen finden wollen.
Ja, auch ich bin für mehr Bundespolizei, dafür, dass Straftäter härter bestraft und schneller abgeschoben werden, so wie es in der Schweiz passiert. Wir brauchen ein konsequentes Durchgreifen.
Was wir nicht brauchen, sind Vorurteile und Hass und Begrifflichkeiten wie „der Ausländer“. Wir dürfen komplexe Probleme nicht aus Bequemlichkeit einfach machen wollen. So wie eine Alice Weidel, die ihr Privatleben genau aus diesem Grund unter Verschluss zu halten scheint.
„Eine Rassistin ist sie in meinen Augen nicht“
Worauf genau richtet sich Ihre Kritik an Frau Weidel?
Umes: Eine Rassistin ist sie in meinen Augen nicht. Genauso wenig wie jeder, der die AfD wählt, ein Nazi ist. Aber wenn ich richtig informiert bin, stammt Weidels Lebensgefährtin wie ich aus Sri Lanka. Das Paar soll zwei Kinder haben. Nach allem, was ich über die AfD weiß, passt das so gar nicht in das Familienbild der Partei.
Wie soll man jemandem, der derart widersprüchliche Botschaften aussendet, abnehmen, dass er authentisch ist und sich ernsthaft für gute, ehrliche Lösungsansätze einsetzt?
Was wünschen Sie sich für Deutschland?
Umes: Dass Migration zur allererst als Bereicherung gesehen wird, und nicht pauschal als Problem. Und dass wir eine Politik haben, die für ersteres entsprechende Rahmenbedingungen schafft.
Zum Beispiel?
Umes: Nehmen wir die Schulen. Wenn in einer Klasse mit 25 Kindern 20 Kinder sitzen, die kein Deutsch sprechen, ist Migration keine Bereicherung. Im Gegenteil. Probleme sind programmiert. Wenn aber in derselben Klasse drei Kinder sitzen, die kein Deutsch sprechen, dann profitiert die Klasse. Immer. Es macht was mit Menschen, wenn sie ihren Horizont weiten und dazulernen. Wenn sie sich überraschen und inspirieren lassen.
Wir brauchen eine Politik, die erkennt, dass sie entsprechend anpacken muss. Was wir nicht brauchen, sind Politiker, die zusätzliche Probleme generieren. So wie jetzt Friedrich Merz durch den von ihm losgetretenen Populismus.
Die CDU scheint weniger Ihre Partei zu sein?
Umes: Moment, ich halte sogar viel von der CDU und habe mir - als SPD-Mitglied - zuletzt ein paarmal gewünscht, sie möge die Wahl gewinnen. Wie viele verfolge ich seit Jahren, wie unsere Wirtschaft durch eine fehlgesteuerte Politik und eine überbordende Bürokratie immer schwächer wird.
Ich bin politisch eigentlich nicht konservativ, aber ich glaube, wir brauchen eine konservative Politik, um die Krise zu lösen. Mein Wunsch war ein Politikwechsel.
War?
Umes: Für einen Politikwechsel bin ich weiterhin. Aber nicht mit Friedrich Merz! Damit habe ich ethisch-moralisch ein Problem. Warum hat er sich so ohne Not in die Nähe der AfD begeben? Warum dieser unkluge Move? Er hätte bis nach der Wahl warten und dann versuchen sollen, seine Forderungen umzusetzen.
Die laufende Migrationsdebatte bereitet uns nicht nur kulturell Probleme. Sie wird die Lage im Land wirtschaftlich weiter verschlechtern. Fachkräfte aus dem Ausland kann sowas doch nur abstoßen. Wer will sich denn mit so einer Gesellschaft identifizieren?
Oder auch „die Grundfarbe Deutsch“ annehmen – wie einer Ihrer Buchtitel lautet?
Umes: Danke, dass Sie dieses für mich so wichtige Wortspiel aufgreifen. Für mich ist diese Grundfarbe unabhängig von Haut und Herkunft. Sie hat vielmehr mit der Frage zu tun, ob jemand die Werte eines Landes respektiert, um dann im nächsten Schritt mitzugestalten.
Wie ich eingangs gesagt habe: Ich habe mich sehr bewusst für dieses Land entschieden. Damit bin ich vielleicht sogar deutscher als viele andere. Denn ich habe etwas für mein Deutschsein getan, während andere nur das Glück hatten, hier geboren zu sein.