Warum Spanien im EM-Finale Favorit ist – und England trotzdem gute Chancen hat
Spanien hat sich bei der EM gegen Topgegner behauptet und geht favorisiert ins im EM-Finale. Doch die Engländer könnten von als Underdog bestehen.
Berlin – Spanien hat sich in einer vermeintlichen Todesgruppe mit Kroatien, dem Dritten der Weltmeisterschaft, und Italien, dem amtierenden Europameister, schadlos gehalten. Anschließend hat das Team in der K.o.-Phase Georgien, Deutschland und Frankreich besiegt. Die größte Herausforderung für die Roja war das Spiel gegen das gastgebende DFB-Team, bei dem eine zumindest diskutable Entscheidung des Schiedsrichters Anthony Taylor Spanien zugutekam.
Bei sechs meist überzeugenden Siegen im Turnierverlauf kann man kaum von einem großen Makel sprechen, wenn gegen den Gastgeber auch etwas Glück dabei war. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Finalgegner England bereits im Achtelfinale gegen die Slowakei nur knapp dem Ausscheiden entging, bevor Jude Bellingham mit einem Fallrückzieher die Verlängerung des Aufenthalts in Deutschland sicherte.
Spanische Teams mit irrer Serie in Finalspielen
Die Spanier haben durch ihre Siege gegen Top-Gegner viel Selbstvertrauen gewonnen und gehen gestärkt ins Endspiel in Berlin. Ein Faktor könnte auch die beeindruckende Serie spanischer Teams bei großen Endspielen sein: Seit über 20 Jahren ging keines von 23 Finalspielen der Champions League oder Europa League gegen Teams aus anderen Ländern verloren, hinzu kommen drei Titelgewinne der Roja selbst.
Neben großem Selbstvertrauen ist vor allem ein klares Selbstverständnis ein wichtiger Trumpf für Spanien: Nationaltrainer Luis de la Fuente hat viele seiner Spieler bereits im Nachwuchsbereich betreut, es besteht ein nahezu blindes Verständnis zwischen der Mannschaft und ihrem Trainer. Dabei wäre es unfair, die Spanier auf Kontrolle durch Tiki-Taka zu reduzieren.

Rodri ist die sportlich prägende Figur der EM
Die Roja ist ein Team, das alle Facetten des Spiels beherrscht, mit Spielern, die bei Bedarf auch ihre harte Seite zeigen: Es war geradezu zynisch, wie Dani Carvajal im Viertelfinale gegen Deutschland eine Gelb-Rote Karte provozierte, um einen Angriff zu stoppen, da er für das Halbfinale ohnehin bereits gesperrt war. Auch Mittelfeldspieler Rodri schreckt vor keinem taktischen Mittel zurück, das seinem Team einen Vorteil verschaffen kann.
Rodri ist wahrscheinlich der bisher beste Spieler der EM in Deutschland. Um die Auszeichnung als Spieler des Turniers, die von der UEFA durch eine Jury vergeben wird, wird er sich wohl hauptsächlich mit seinen Teamkollegen Lamine Yamal und Nico Williams streiten. Wenn dieses Trio am Sonntag in Topform ist, wird Spanien die Kontrolle im Zentrum sicher haben und werden die Iberer immer wieder über die Flügel Alarm machen.
Außenseiterrolle dürfte England recht sein
Bei all dem Lob für den Gegner könnte man den Eindruck gewinnen, dass England nahezu chancenlos ist. Aber im Gegenteil, die Spielweise von Spanien könnte den Three Lions entgegenkommen. Das Team von Gareth Southgate hat bei der EM viel Kritik für seine abwartende Haltung einstecken müssen und hatte Schwierigkeiten, Spiele mit viel Ballbesitz zu bestreiten. Gegen Spanien könnte genau diese Eigenschaft zum Vorteil werden.
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England kann sich gegen den Favoriten auf seine sehr stabile Abwehr vor Torhüter Jordan Pickford verlassen und einzelne Nadelstiche setzen. Gegen kleinere Teams mag das unter dem Stichwort „Heldenfußball“ für Kritik sorgen, gegen die Roja ist es wahrscheinlich der richtige Ansatz, sich nicht auf einen fußballerischen Schlagabtausch einzulassen.

Gareth Southgate hat größere Auswahl
Es liegt auf der Hand, dass es den Engländern zugutekommen würde, wenn das Spiel lange offen bleibt. Denn die Bank von Southgate ist definitiv hochwertiger besetzt als die seines Gegenübers. Vor allem im Angriff hat England ein Überangebot, während Spanien stark von Williams, Yamal und Dani Olmo abhängig zu sein scheint: Kapitän Álvaro Morata geht zwar mit vorbildlicher Einstellung voran, hat aber seit dem zweiten Gruppenspiel keinen Schuss mehr auf das gegnerische Tor gebracht.
Passend zur Rolle des Underdogs hat England auch gezeigt, dass das Team eine herausragende Mentalität hat. Im Achtelfinale gegen die Slowakei haben die Superstars Bellingham und Harry Kane den Kopf aus der sprichwörtlichen Schlinge gezogen, im Viertelfinale gegen die Schweiz hat England im Elfmeterschießen gewonnen. Im Halbfinale gegen die Niederlande sorgte Joker Ollie Watkins für den späten Sieg.
England will die Scharte der letzten EM auswetzen
Der Hunger der Engländer speist sich auch aus der Niederlage im Finale der EM 2020 nach Elfmeterschießen gegen Italien im eigenen Wembley-Stadion. In England hat sich der Eindruck verfestigt, dass das Team von Southgate bei der EM endlich belohnt wird. Eine kleine Randnotiz ist sicherlich, dass es den traditionsbewussten Fans sehr gut schmecken würde, wenn der erste Titel seit 1966 ausgerechnet auf deutschem Boden gelingen sollte.
Auch aus statistischer Sicht gibt es einen Fakt, der England Mut machen könnte: Bei acht Europameisterschaften seit der Erweiterung auf 16 Teams (1996) gab es nur zwei Titelträger, die jedes Turnierspiel siegreich gestaltet haben. Spanien hätte ein Dämpfer vielleicht gutgetan. Wobei: 2008 sorgte die Roja selbst für einen der beiden Ausreißer.