„Wirtschaft first“: Nach drei verlorenen Jahren zeigen Experten, was Deutschland jetzt braucht

  1. Startseite
  2. Wirtschaft

Kommentare

Hohe Energiekosten, fehlende Investitionen und umständliche Bürokratie – Experten fordern von der neuen Bundesregierung eine wirtschaftspolitische Wende. Doch kann das gelingen?

Berlin – Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands steht längst auf der Kippe. Mit ihrer Wachstumsinitiative wollte die ehemalige Ampel sowie die jetzige Bundesregierung aus SPD und Grüne Impulse setzen, doch zentrale Reformen bleiben Stückwerk. Experten kritisieren die zögerliche Umsetzung bei Investitionen, Energiepreisen und Bürokratieabbau. Während einige Maßnahmen, wie steuerliche Erleichterungen und niedrigere Strompreise, teilweise umgesetzt wurden, stagniert vieles. Nicht wenige sprechen von drei verlorenen Jahren.

Deutschlands Wirtschaft schrumpft – Experten fordern von neuer Regierung wirtschaftspolitische Wende

Doch ob eine neue Regierung, etwa unter dem CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, umgehend die notwendigen Schritte einleitet, bleibt ebenso fraglich. Denn Deutschland steht vor immensen Herausforderungen: Es ist die einzige Industrienation, deren Wirtschaft zwei Jahre in Folge geschrumpft ist. Einige Experten sehen 2025 sogar eine schärfere Rezession auf die Bundesrepublik zurollen. Um das Land wieder auf Kurs zu bringen, fordern sie verschiedene wirtschaftspolitische Maßnahmen – doch zuallererst einmal Einigkeit.

Drei Jahre Ampel-Koalition haben zahlreiche Reformen ausgebremst. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, sieht die Hauptursache gegenüber IPPEN.MEDIA in der Uneinigkeit der Koalitionspartner: „Neben allen Problemen wie den Spätfolgen der Pandemie oder dem Ukraine-Krieg samt Anstieg der Energiepreise muss man den Ampel-Parteien vorwerfen, dass sie keine gemeinsame Zukunftsstrategie entwickeln konnten.“ Die „produktive Reibung“ dreier unterschiedlicher Parteien hätte schnell zu Neid und Missgunst geführt – darunter habe die Kompromissfähigkeit gelitten. Auch Peter Adrian, Präsident der Deutschen Industrie und Handelskammer (DIHK), sprach sich gegenüber Reuters für mehr Einigkeit aus: So bräuchten die Unternehmen in Deutschland einen „glaubwürdigen wirtschaftspolitischen Kurs, der Bedingungen für Investitionen und Wachstum verbessert.“

Lindner, Habeck und Scholz
Die Ampel-Koalition ist längst Geschichte, doch die Krise in Deutschlands Wirtschaft hält weiterhin an. © Kay Nietfeld/dpa

Sinkende Energiepreise, Investitionsanreize, weniger Bürokratie – die Liste der Forderungen ist lang

Stabile Energiepreise sind laut Experten entscheidend, um die industrielle Basis zu sichern und Abwanderungen zu verhindern. Hüther fordert: Nur so ließe sich die industrielle Basis Deutschlands erhalten und Abwanderungen von energieintensiven Großunternehmen verhindern, erklärt Hüther. Die Netzentgelte sollten „kurzfristig mit Bundesmitteln gedeckelt werden“, so die Lösung des Experten.

Auch der DIHK-Präsident sieht sofortigen Handlungsbedarf beim Rückbau energiepolitischer Belastungen sowie Erleichterungen bei der Infrastruktur. Die künftige Bundesregierung solle ohnehin eine Agenda „Wirtschaft first“ vertreten. Nur so würden sich die Bedingungen für Investitionen und Wachstum verbessern, ergänzt Adrian. Speziell die ausufernde Bürokratie behindere dringend notwendige Privatinvestoren daran, in den deutschen Markt zu investieren. Diesen Punkt greift auch die Wachstumsinitiative der Bundesregierung auf: „Auch wenn der Bundeshaushalt Rekordinvestitionen vorsieht, muss der Löwenanteil der Zukunftsinvestitionen privat gestemmt werden.“

Doch geschehen sei bisher zu wenig. Laut Hüther brauche das Land neben mehr unbürokratischen Freiraum für Unternehmen, eine konkrete Investitionsprämie: Diese solle es Unternehmen ermöglichen, Zukunftsinvestitionen sofort abzuschreiben. Auch Adrian fordert eine Unternehmenssteuerreform, die Anreize für mehr Investitionen sorge. Diese sei allerdings weniger der Ampel anzulasten, sondern vielmehr in den vergangenen 16 Jahren verschlafen worden.

Experte: Investitionsstau in Deutschland umfasst 600 Milliarden Euro – Schuldenbremse lockern oder nicht?

Deutschland leidet zudem unter einem Investitionsstau von über 600 Milliarden Euro. Hüther fordert daher ein Sondervermögen für den Ausbau von „Bahn, Autobahnen und der Infrastruktur in Bund, Länder und Gemeinden“. Für die Umsetzung dieser Maßnahmen seien aber höhere Schulden alternativlos.

Uwe Cantner, Professor für Volkswirtschaftslehre in Jena sowie Leiter der Expertenkommission Forschung und Innovation der deutschen Bundesregierung (EFI), sieht den schlechten Zustand der deutschen Wirtschaft auch in ihrem Erfolgsmodell begründet: Gegenüber der WirtschaftsWoche spricht er von einem „Innovator’s Dilemma“: „Die Auftragsbücher der deutschen Unternehmen sind lange Jahre voll gewesen, die Exporte stark, die Geschäfte boomten. Niemand sieht sich dann dazu veranlasst, das aktuelle Geschäftsmodell in Frage zu stellen – und nun erleben wir die Folgen.“ Deutschland müsse eine eigene Forschungs- und Anwendungsstruktur aufbauen – und weniger auf einzelne ausländische Branchenriesen setzen. Hoffnung sieht er in den Branchen, in denen Deutschland schon immer gut war, wie etwa die erweiterte Automatisierung der Mobilität.

Cantner plädiert allerdings bei diesen Schlüsselbranchen für einen systematischen Ansatz, bei dem die Schuldenbremse nicht unbedingt gelockert werden müsse: „Politik dieser Art zeigt den Unternehmen Korridore auf, wo es die nächsten 15 oder 20 Jahre hingehen soll – etwa mit forschungs- und innovationspolitischen Schwerpunkten bei nachhaltiger Mobilität oder bei der innovativen Anwendung künstlicher Intelligenz.“ Dieser Weg, so resümiert es Cantner, sei eine größere Herausforderung als der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Wirtschaftsstabilität nach der Wiedervereinigung.

Auch interessant

Kommentare