Wieso Großbritannien in der europäischen Migrationskrise entscheidend ist
Ausgerechnet dem Brexit-Land Großbritannien kommt in der Migrationskrise der EU eine Schlüsselrolle zu. Künftige Deals mit Drittstaaten hängen vom Ärmelkanal ab.
Berlin – Immer mehr Menschen flüchten nach Europa, in Deutschland sind Kommunen überfordert. Parteiübergreifend fordern Politikerinnen und Politiker EU-Migrationsabkommen mit Drittstaaten zur Reduzierung irregulärer Migration. Doch um in Verhandlungen mit afrikanischen Staaten Erfolge zu erzielen, braucht es zuerst einen Deal mit Großbritannien, sagt Gerald Knaus im Interview mit Ippen.Media. Er ist Migrationsexperte und Architekt des EU-Türkei-Deals von 2016. Für Knaus ist ein Abkommen mit dem Vereinigten Königreich entscheidend, weil Deutschland andernfalls die Glaubwürdigkeit fehlt.
Migration: Asylanträge in Deutschland steigen kräftig an
Allein im November 2023 stellten über 35.000 Menschen in Deutschland einen Erstantrag auf Asyl. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg um über 20 Prozent, wie aus aktuellen Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hervorgeht. Um die daraus resultierenden Probleme einzudämmen, müssen die europäischen Staaten ein Migrationsabkommen mit den Briten abschließen, argumentiert Knaus. Zwar kommen die Geflüchteten meist aus Ländern des Nahen Ostens und Afrika. Erfolgreiche Verhandlungen zwischen der EU mit diesen Staaten gibt es bisher aber nicht.

Ziel eines Abkommens ist es, Migration auf regulärem Weg zu regeln, das Schleppergeschäft zu zerstören und das Ertrinken vieler Flüchtender zu stoppen. „Deutschland und andere EU-Staaten könnten sofort, in diesem Winter, beweisen, wie ein Abkommen die irreguläre Migration human reduziert, im Ärmelkanal zwischen der EU und Großbritannien“, sagt Knaus. „Dort stiegen im letzten Jahr 46.000 Menschen in Schlepperboote. Deutschland und Dänemark könnten London anbieten, ab dem 1. Januar jeden, der die EU so verlässt, sofort zurückzunehmen.“
Deutschland muss Glaubwürdigkeit in der Migrationspolitik beweisen
Für den österreichischen Migrationsexperten geht es darum, künftigen Drittstaaten in Afrika zu zeigen, dass Deutschland bereit ist, irregulär Geflüchtete aus Großbritannien zurückzunehmen. Denn, so die Logik, dasselbe verlangt die EU auch von künftigen sicheren Drittstaaten.

„Olaf Scholz könnte sofort, am besten gemeinsam mit Dänemark und anderen Nachbarn, ein solches Angebot an Großbritannien machen. Deutschland würde Menschen zurücknehmen und damit zeigen, dass das funktioniert.“, sagt Knaus, der derzeit mit europäischen Spitzenpolitikern dazu im Gespräch ist. „Und dann auch glaubwürdig in Verhandlungen mit afrikanischen Ländern gehen. Sichere Drittstaaten müssen tatsächlich sicher sein. Und sie müssen ein Eigeninteresse an solchen Lösungen haben. Das hat auch Deutschland.“
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EU-Migrationsabkommen schon in naher Zukunft?
Mit diesem Schritt würde ein Zeichen gesetzt. „Würden Staaten dies heute vereinbaren, würde im März kaum noch jemand im Boot den Ärmelkanal überqueren, weil klar wird, dass der irreguläre Weg keinen Erfolg verspricht“, sagt Knaus. „Im Gegenzug sollte das Vereinigte Königreich jährlich 20.000 Flüchtlinge oder Asylsuchende aus Deutschland legal aufnehmen. So zerstört man das Geschäft der Schleuser. Und beweist: Eine sichere Drittstaatspolitik ist für alle sinnvoll – und viel moralischer, als der Status quo.“
Der Migrationsforscher zeigt sich verhalten optimistisch, in naher Zukunft eine Lösung mit Großbritannien zu finden. „Ich habe mit vielen in der SPD gesprochen, mit der Union, den Grünen, der FDP. Viele sehen die Herausforderungen, aber eben auch, dass etwas geschehen muss. Jetzt braucht es politische Führung und Mut.“