Architekt des Türkei-Abkommens: „Echter Durchbruch in Migrationskrise sofort möglich“
Gerald Knaus ist Migrationsforscher und Ideengeber des EU-Türkei-Deals 2016. Er erklärt, wie Migrationsabkommen schon jetzt möglich sind – wenn die Politik es ernst meint.
Berlin – In der deutschen Diskussion um Migration fordern alle Abkommen mit Drittstaaten – voran geht es aber nicht. Gerald Knaus ist Architekt des EU-Türkei-Deals von 2016. Es war das erste EU-Migrationsabkommen mit einem Drittstaat in dieser Form und reduzierte die irreguläre Migration im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015. Derzeit ist Knaus bei Europas Spitzenpolitikern zu Gast und wirbt abermals für schnelle, humane und praktische Lösungen, um irreguläre Migration zu begrenzen. Wieso ausgerechnet dem Vereinigten Königreich dabei eine Schlüsselrolle zukommt und woran es (noch) hakt.
Herr Knaus, ein Abkommen wie der EU-Türkei-Deal war damals noch etwas vollkommen Unbekanntes. Wie kamen Sie auf diese ungewöhnliche Idee?
Meine Kollegen und ich arbeiteten in dieser Zeit an Antworten auf zwei Fragen. Wie stoppen wir das Sterben im Mittelmeer? In den zwölf Monaten vor der EU-Türkei Erklärung im März 2016 sind über 1100 Menschen in der Ägäis ertrunken. Und: Wie verhindern wir, dass aus Angst vor unkontrollierter Migration illiberale Parteien in ganz Europa Wahlen gewinnen?

In einem Papier prangerten Sie die gescheiterten Versuche der EU, eine geordnete Migrationspolitik zu schaffen, an.
Ein Ziel unseres Vorschlags war, die Zahl der Menschen, die in Boote stiegen, ohne Menschenrechtsverletzungen zu reduzieren. Medien haben unser Konzept dann schnell aufgegriffen. Wir sprachen mit Politikern in ganz Europa, von Den Haag bis Ankara. Anfang März 2016 präsentierte der türkische Premierminister der EU unser Konzept als türkischen Plan. Daraus ging die EU-Türkei-Erklärung hervor.
Also war der Plan ein Erfolg?
Nicht in allem. In den vier Jahren danach war die Türkei bereit, Menschen zurückzunehmen. Und die Zahl der Menschen, die in Boote gestiegen sind, ist 2016 sofort drastisch gefallen. Im Jahr vor dem Abkommen waren es eine Million Menschen. Im Jahr danach 26.000 – und das ohne illegale Pushbacks, also das Zurückstoßen von Menschen auf dem Meer. Seit März 2020 nimmt die Türkei allerdings keine Menschen mehr zurück, und es gibt in der Ägäis stattdessen systematische Pushbacks, an der Landgrenze und in der Ägäis.
Das Türkei-Abkommen wurde damals in Deutschland von vielen als menschenunwürdig kritisiert, besonders von links. Heute dagegen fordern quasi alle Politiker gleichermaßen Vereinbarungen mit Drittstaaten im Geiste des Türkei-Abkommens. Ist in Deutschland Pragmatismus eingekehrt?
Keine demokratische Partei kann sagen, sie habe kein Konzept humaner Kontrolle irregulärer Migration. Die Situation in der Ägäis ist ohne ein funktionierendes EU-Türkei Abkommen seit März 2020 viel schlimmer. Der Status quo im Mittelmeer, mit Tausenden Toten im Jahr, ist auch moralisch nicht akzeptabel.

Sie sagen, durch Migrationsabkommen können Menschen zurückgeführt werden, reguläre Migration wird erleichtert, Pushbacks verhindert und das ganze könne auch noch mehrheitsfähig gestaltet werden. Bei all diesen Vorteilen – wieso hat die EU dann keine Migrationsabkommen?
Es gibt Abkommen, aber es sind die falschen. Die Kooperation mit Libyen seit 2017 ist ein moralischer Skandal. Die libysche Küstenwache bekommt Geld, um Menschen abzufangen und unter Misshandlungen einzusperren. Da geht es nicht um Rückführungen ab Stichtagen, um die Menschenrechtskonvention oder faire Verfahren in einem sicheren Drittstaat. Es gibt auch keine legalen Wege für Schutzsuchende. Wir brauchen Abkommen wie das, was die Türkei 2016 der EU angeboten hat.
Es geht also darum, mit möglichen Drittstaaten erst einmal zu verhandeln und ihnen attraktive Angebote zu machen?
Deutschland und andere EU-Staaten könnten sofort, in diesem Winter, beweisen, wie ein Abkommen die irreguläre Migration human reduziert, im Ärmelkanal zwischen der EU und Großbritannien. Dort stiegen im letzten Jahr 46.000 Menschen in Schlepperboote. Deutschland und Dänemark könnten London anbieten, ab dem 1. Januar jeden, der die EU so verlässt, sofort zurückzunehmen. Und das tun, was die Türkei 2016 tat: sich als sicherer Drittstaat anbieten.
Wieso ist gerade die Frage der Rückführungen so entscheidend?
Würden Staaten dies heute vereinbaren, würde im März kaum noch jemand im Boot den Ärmelkanal überqueren, weil klar wird, dass der irreguläre Weg keinen Erfolg verspricht. Im Gegenzug sollte das Vereinigte Königreich jährlich 20.000 Flüchtlinge oder Asylsuchende aus Deutschland legal aufnehmen. So zerstört man das Geschäft der Schleuser. Und beweist: Eine sichere Drittstaatspolitik ist für alle sinnvoll – und viel moralischer, als der Status quo.
Bisher ist aber kein Abkommen zustande gekommen.
Olaf Scholz könnte sofort, am besten gemeinsam mit Dänemark und anderen Nachbarn, ein solches Angebot an Großbritannien machen. Deutschland würde Menschen zurücknehmen und damit zeigen, dass das funktioniert. Und dann auch glaubwürdig in Verhandlungen mit afrikanischen Ländern gehen. Sichere Drittstaaten müssen tatsächlich sicher sein. Und sie müssen ein Eigeninteresse an solchen Lösungen haben. Das hat auch Deutschland.
Das hört sich einfach an. Sie sind im regelmäßigen Austausch mit den europäischen Spitzenpolitikern, wieso werden Ihre Vorschläge nicht umgesetzt?
Es handelt sich um einen wirklichen Paradigmenwechsel. Das ist keine kleine Anpassung, sondern ein echtes Umdenken. Und das fällt immer schwer. Viele Menschen hängen im Paradigma fest, dass die einzige Art nach Europa zu kommen darin besteht, das eigene Leben riskieren zu müssen und auf Schlepper angewiesen zu sein.
Kommt also ein Ärmelkanal-Abkommen, das wie einst der Türkei-Deal als Blaupause und Willensbekundung für neue Verhandlungen mit afrikanischen Staaten dient?
Ich bin verhalten optimistisch. Beim Bund-Länder Treffen im November wurde beschlossen, Drittstaatslösungen ernsthaft zu prüfen. Jetzt muss etwas Konkretes passieren. Ich habe mit vielen in der SPD gesprochen, mit der Union, den Grünen, der FDP. Viele sehen die Herausforderungen, aber eben auch, dass etwas geschehen muss. Jetzt braucht es politische Führung und Mut. Und eine positive Vision: eine Welt mit mehr sicheren Drittstaaten, weniger tödlicher irregulärer Migration und wie in Kanada mehr legale Flüchtlingsaufnahmen.
Nur weil es mit Großbritannien klappt, muss es das aber nicht mit anderen Staaten. Welche sind aussichtsreich für Abkommen?
Jedes politisch stabile Land in West- und Ostafrika, dem etwas Attraktives angeboten wird, kommt dafür infrage. Das kann legale Migration sein, ökonomische Unterstützung, Visa-Erleichterungen. Wichtig ist, das Ziel klarzumachen: solche Migrationsabkommen führen schnell zu weniger Rückführungen, weil Menschen nach solchen Einigungen nicht mehr auf irregulärem Weg nach Europa aufbrechen. Und damit sehr viel weniger Menschen ums Leben kommen. Es ist aber nicht sinnvoll, Länder zu nennen, wenn man noch nicht mit ihnen verhandelt.