„Messer gezückt“: Ukraine sucht verzweifelt Kriegs-Freiwillige in Polen
Militärhilfe, Sozialausgaben, und kein Ende in Sicht. In Polen scheint die Geduld erschöpft. Die Ukraine rekrutiert dort ab jetzt Freiwillige; wenige.
Lublin – „Ich glaube, viele Polen sind empört, wenn sie junge Ukrainer in Hotels und Cafés sehen und hören, wie viel Mühe wir aufbringen müssen, um der Ukraine zu helfen“, sagte Wladyslaw Kosiniak-Kamysz im März dieses Jahres. „Die Form der Hilfe, die Polen leistet, hängt jedoch von der ukrainischen Seite ab“, betonte der polnische Verteidigungsminister gegenüber dem Sender Polsat News. In Polen kippt die Stimmung gegen die Integration geflüchteter Männer im wehrfähigen Alter aus der Ukraine. Jetzt hat die Kriegspartei in Polen ein Büro eröffnet, um Freiwilligen auf dem Weg in den Ukraine-Krieg entgegenzukommen – mit mäßigem Erfolg.
Das Büro in Lublin, rund 100 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, verfüge über „die gesamte notwendige Ausrüstung“, um die Eignung von Freiwilligen für den Dienst festzustellen, sagte der stellvertretende ukrainische Verteidigungsminister Ivan Gavryliuk in einer Erklärung, wie jetzt die Kyiv Post berichtet. Bereits seit Mitte dieses Jahres bemüht sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj darum, aus dem ins Ausland geflüchteten Reservoir junger Männer zu schöpfen. Seit Kriegsbeginn ist ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren das Verlassen ihres Landes verboten; dennoch leben viele außer Landes.
Selenskyj macht mobil: Bis zu einer halben Million Soldaten will er noch ausheben
Verschiedenen Medienberichten zufolge wolle Selenskyj noch eine halbe Million Soldaten ausheben. Gegenüber dem US-Sender CNN hatte im Februar dieses Jahres der ehemalige Verteidigungsminister Andrij Sagorodnjuk gesagt:. „Vielleicht nicht eine halbe Million, aber immer noch Hunderttausende.“ Um die zu ködern, suche Kiew selbst noch „nach dem richtigen Ton“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) im Mai geschrieben hatte. Sie bezog sich auf den ukrainischen Verteidigungsminister Rustem Umjerow, der gegenüber der Bild geäußert hatte, dass er in 2024 die in Deutschland lebenden wehrfähigen Ukrainer zum Kriegsdienst heranziehen wolle. Zunächst scheint aber in Polen ausgehoben zu werden.
„Es ist ein dringender moralischer Appell und den sollten wir durchaus auch politisch unterstützen. Diese Menschen halten sich hier auf, weil dort Krieg geführt wird – und sie müssen einfach einen Beitrag dazu leisten, dass dieser Krieg beendet wird.“
Schließlich sind neben Deutschland vor allem Tschechien und Polen die hauptsächlichen Fluchtpunkte ukrainischer Flüchtlinge; auch dort spitzt sich die Situation zu. Ende April hatte die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, dass die ukrainische Regierung im Zuge ihrer Bemühungen, dem Truppenmangel entgegenzuwirken, jungen Männern vorübergehend unmöglich gemacht habe, im Ausland Pässe zu beantragen. Zur gleichen Zeit meldete sich dann Außenminister Dmytro Kuleba auf der Plattform X (vormals Twitter) zu Wort und kündigte an, Männern im Ausland konsularische Leistungen zu verwehren.
Wie das Magazin Reporting Democracy berichtete, schrieb er: „Ein Mann im wehrfähigen Alter ist ins Ausland gegangen, zeigte seinem Staat, dass ihn dessen Überleben nicht kümmert, und dann kommt er und will eine Leistung von diesem Staat. So funktioniert das nicht. Unser Land ist im Krieg.“ Jetzt bekommen in Polen lebende Männer die Gelegenheit, über die Armee, wieder in ihre Heimat zurückzukehren.
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„Ukrainische Legion“: Grundstein dafür sind die wehrfähigen Flüchtlinge
Das Rekrutierungsbüro in Lublin soll den Grundstein legen für eine „Ukrainische Legion“. Laut dem Medium Notes from Poland habe das ukrainische Verteidigungsministerium davon gesprochen, dass sich bereits rund 200 Freiwillige gemeldet hätten. Offenbar waren rund 140 Bewerbungen online eingegangen und 58 über Konsulate, schreibt das Magazin.
Die Ankündigung über die Eröffnung des Rekrutierungs-Büros erfolgte offenbar zeitnah zu einer Erklärung des polnischen Verteidiungsministers, sein Land sei seit mehr als einem Monat bereit gewesen, die Legion auszubilden; die ukrainische Seite müsse jedoch die Rekruten organisieren. Laut Kosiniak-Kamysz sollen die Freiwilligen dann auch im Land selbst ausgebildet werden. Die Musterung würde in Form eines Interviews erfolgen mit anschließendem medizinischen Test.
„Wenn sie dann einen Vertrag unterzeichnen, werden die Freiwilligen eine 35-tägige Ausbildung durch das polnische Militär absolvieren, sagte Ivan Havryliuk. ,In Zukunft könnten sie für ein paar weitere Monate auf einen der europäischen Nato-Stützpunkte geschickt werden, um ihre Fähigkeiten zu verbessern‘,“ fügte er gegenüber Notes from Poland hinzu. Dem ukrainischen Vizeverteidigungsminister zufolge stelle die Ukraine Uniformen und böte logistische Unterstützung für das Programm, während Polen Waffen und andere Ausrüstung liefere.
Stimmungswandel: „Der Schatten der ,Ukraine-Müdigkeit‘ schwebt über der polnischen Politik“
Bereits im Juli soll Radosław Sikorski dahingehend vorgeprescht sein, dass sich „mehrere Tausend“ in Polen lebende Ukrainer für eine freiwillige Militäreinheit gemeldet hätten – ihm zufolge Anlass genug für andere europäische Länder, ähnliche Initiativen zu starten. Offenbar hatte sich der polnische Außenminister aber von Wolodymyr Selenskyj einen Bären aufbinden lassen, wie die führende polnische Zeitung Dziennik Gazeta Prawna unter Berufung auf anonyme Quellen richtig gestellt haben soll.
Demnach sei Sikorski von der Ukraine über das angeblich große Interesse der Ukrainer, sich freiwillig für die Legion zu melden, „irregeführt“ worden, wie Notes from Poland Anfang Oktober berichtet hatte. Dem Medium zufolge hätte Sikorsky in dem Zusammengang gefordert, in Europa die Sozialleistungen für ukrainische Männer im wehrfähigen Alter herunterzufahren, um zu vermeiden, dass die Verweigerung des Militärdienstes auch noch belohnt würde.
Auch die F.A.Z. hat die grundlegend gegenläufigen Tendenzen auf den Punkt gebracht: „Muss Deutschland zusätzlich zu den Milliarden an Militärhilfe für die Ukraine auch noch deren Fahnenflüchtige versorgen? Andere fragen: Wie könnte man jemanden dafür verurteilen, dass er nicht im Krieg sterben will?“ Fragen, die ganz Europa beschäftigen – in Polen als direkter Nachbar der Front möglicherweise ganz besonders. „Der Schatten der ,Ukraine-Müdigkeit‘ schwebt über der polnischen Politik“, hatte kürzlich die britische BBC getitelt. Ein abrupter Stimmungswandel also.
Deutschland fragt lauter: Warum Militärhilfe und zusätzlich Bürgergeld?
„Jetzt hat man plötzlich das Gefühl, als seien die politischen Messer gegen Kiew gezückt“, schreibt BBC-Autorin Sarah Rainsford. Ihr zufolge hätte sich der polnische Präsident unmissverständlich ausgedrückt, als er von einem möglichen Ende der Waffenlieferungen sprach: „Andrzej Duda verglich die Ukraine mit einem Ertrinkenden, der riskiert, seine Retter mit in die Tiefe zu reißen.“
Auch in Deutschland wird immer lauter gefragt, warum Männer im wehrfähigen Alter hier lebten anstatt an der Front in ihrer Heimat zu kämpfen – das Nachrichtenmagazin Spiegel hatte das im Juni zuletzt thematisiert. Laut dessen Kolumnist Nikolaus Blome erscheint paradox, „dass deutsches Geld der Ukraine Waffen für den Abwehrkrieg finanziert, aber zugleich deutsches (Bürger-)Geld der Ukraine Soldaten für den Krieg indirekt entzieht“, wie er schreibt.
Laut dem Bundesinnenministerium sind seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine 203.640 männliche ukrainische Staatsangehörige im wehrfähigen Alter nach Deutschland eingereist. Niemand weiß, wer davon tatsächlich vor dem Kriegsdienst geflohen ist. Deutschlands Justizminister Marco Buschmann (FDP) könne sich nicht vorstellen, von staatlicher Seite Druck auf zurzeit in Deutschland ansässige ukrainische Männer auszuüben, „da unsere Verfassung ja für deutsche Staatsbürger vorsieht, dass niemand gegen seinen Willen Dienst an der Waffe leisten muss, oder dass wir Menschen anderer Staaten dann dazu zwingen können“, wie ihn das Magazin Legal Tribune Online zitiert.
Buschmann verweist damit, laut Legal Tribune Online, auf die im Grundgesetz (GG) festgehaltenen Prinzipien zum Wehrdienst. In Artikel 12a Abs. 2 Satz 1 GG steht: „Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden.“ Johann Wadephul will das strikter gehandhabt wissen; wenn sich wehrfähige Männer der Unterstützung ihrer Heimat entzögen, könne man das nicht gutheißen, sagte das CDU-Mitglied im Verteidigungsausschuss gegenüber dem Deutschlandfunk.
Allerdings sieht der Bundestagsabgeordnete hier auch eher die Freiwilligkeit angesprochen anstatt Zwang auszuüben, wie er gegenüber der Welt äußerte: „Es ist ein dringender moralischer Appell und den sollten wir durchaus auch politisch unterstützen. Diese Menschen halten sich hier auf, weil dort Krieg geführt wird – und sie müssen einfach einen Beitrag dazu leisten, dass dieser Krieg beendet wird.“