„Nur eine Idee“: Polen erwägt Abschuss russischer Raketen über dem eigenen Luftraum

  1. Startseite
  2. Politik

KommentareDrucken

Ein Patriot-Flugabwehrraketensystem auf dem Flughafen Rzeszow-Jasionka in Polen. Der Frontstaat zu Russland investiert enorme Summen in seine Verteidigung und überlegt inzwischen, russische Raketen mit der Ukraine als Ziel über dem eigenen Luftraum abzuschießen. © Evan Vucci/AP/dpa

Polen pocht auf sein Recht auf Selbstverteidigung. Nach etlichen verirrten Raketen über dem eigenen Land, will sich der Nato-Frontstaat jetzt wehren.

Warschau – Er sehe eine Pflicht darin, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um die internationale Ordnung wieder herzustellen; und ein Opfer von Aggression habe das Recht sich zu verteidigen – mit allen Mitteln, sagte Radosław Sikorski. Der polnische Außenminister sprach parallel zum jüngsten Gipfeltreffen der Nato-Partner mit dem Thinktank American Enterprise Institute. Dem Aggressor Wladimir Putin könnte jetzt drohen, auch vom Nato-Grenzland aus unter Feuer genommen zu werden: Kiew hatte angefragt, russische Raketen mit Kurs auf Städte der Ukraine von Polen aus abzufangen, wie das Magazin Politico berichtet. Sikorski wolle die Anfrage prüfen – Warschau behält den Finger am Abzug.

Polen wird immer wieder in den Ukraine-Krieg verwickelt – unfreiwillig. Der Nato-Partner liegt geographisch am dichtesten zu den aktuell gefährlichsten Nato-Gegnern Russland und Belarus. Zu einem „Schutzschild Ost“ wolle Warschau die rund 700 Kilometer lange Grenze zu Russland hochrüsten – das hatte der Spiegel im Mai berichtet. Aber auch das Verhältnis zur Ukraine ist verschnupft: Im September 2023 war eine Rakete in Polen eingeschlagen; versehentlich. Absender war die Ukraine gewesen. Zwei polnische Zivilisten sind dadurch ums Leben gekommen.

Polens Dilemma: Mitten auf der Flugbahn zwischen Putins Raketen und Zielen in der Ukraine gelegen

„Wir sind ein Frontstaat, das ist unser Dilemma“, sagte Sikorski. Die anfliegenden Raketen aus Richtung St. Petersburg oder der russischen Enklave Kaliningrad würden belarusisches Territorium überfliegen, dann für einige Sekunden den polnischen Luftraum kreuzen, bis sie in die Ukraine eindrehen würden, um beispielsweise zivile Ziele in der Westukraine zu zerstören. Der Abschuss sei seiner Meinung nach Selbstverteidigung, sagte Sikorski – und legte damit nahe, dass eine Reaktion der Polen möglicherweise außerhalb des Nato-Beistandspakts zu betrachten sei.

„Natürlich gibt es in Bezug auf Raketen auf dem Territorium der Republik Polen noch andere Verfahren. Dann ist es unsere Entscheidung.“

„Warum schießt Polen russische Raketen nicht einfach ab?“, fragte noch im April die Frankfurter Allgemeine Zeitung. In den vergangenen 16 Monaten seien drei russische Raketen, sechs Meter lange Marschflugkörper, nachts über polnisches Gebiet geflogen, notierte F.A.Z.-Autor Gerhard Gnauck und betrachtet diese Vorfälle beinahe als Sündenfall innerhalb der Beziehungen zwischen der Nato und der Russischen Föderation. Tatsächlich waren Reaktionen der Nato diskutiert aber wieder verworfen worden.

Die erste Rakete sei aus Richtung Belarus „grob gesagt in Richtung Berlin“ geflogen und in der Nähe von Bydgoszcz in einen Wald gestürzt, wie Gnauck schreibt. „Die anderen näherten sich über dem Nordwesten der Ukraine der polnischen Grenze und überquerten diese etwa in Höhe der Stadt Zamość. Eine war gut drei Minuten im Land, wendete dann und steuerte wieder die Ukraine an. Die andere war 39 Sekunden lang über Polen. Beide flogen offenbar Ziele um die ukrainische Großstadt Lwiw an“ – in den Worten Gnaucks beinahe ein unbehelligtes, vor allem aber unsanktioniertes Hin- und Her der Russen über dem Gebiet der Nato.

Polens Ziel: Ein dichter Schutzschild gegenüber Russland zu Lande und in der Luft

Der „Schutzschild Ost“ ist geplant als Kooperation der Polen mit den baltischen Staaten, um einen möglichen russischen Angriff am Boden so lange wie möglich aufzuhalten: Betonblockaden, Panzergräben und Schutzzäune sollen Panzer stoppen. „Die Grenzregion soll in einem bis zu 100 Kilometer tiefen Streifen so umgebaut werden, dass die polnische Armee leichter manövrieren kann, während der Einfall gegnerischer Truppen verhindert werden soll“, schreibt der Spiegel. Auch der Luftraum wird dicht gemacht werden – beispielsweise mittels Luftraum-Überwachung und der Abwehr von Drohnen.

Die Abwehr von Raketen aber ist ein anderes Kaliber. Polen hatte sich anfangs gegen den Beitritt zur European Sky Shield Initiative (ESSI) gesträubt und wollte rein auf amerikanische sowie britische Luftabwehr-Systeme setzen, statt beispielsweise auf das deutsche Iris- und das israelische Arrow-System. Wie das Magazin Defense News berichtet, hat Polen aber kürzlich angekündigt, doch unter den Schutzschirm schlüpfen zu wollen. Bis die Schilde am Boden und in der Luft schützen, wird noch viel Zeit vergehen, während der Ukraine-Krieg an Brutalität zunimmt.

Polens Rätsel: Putins Intentionen mit den Flügen seiner Raketen über Polen

Inwieweit sich Russland möglicherweise auf den Nato-Grenzstaat einschießt, sei auch der polnischen Luftabwehr ein Rätsel, sagt Sebastian Kaczmarzyk gegenüber der F.A.Z.: „Es ist also schwer, hier Thesen aufzustellen über eine bestimmte Intention der Russen.“ Den Beobachtungen des Chefs der polnischen Luftabwehr zufolge flögen Russlands Raketen aus dem Osten des Landes an den Abwehrstellungen der Ukraine vorbei in einem großen Bogen in nordwestlicher Richtung. „Unter Einfluss von Wind und Wetter könne diese Kurve mal mehr, mal weniger weit nach Polen hineinreichen“, sagt der Oberst. Ein Absturz einer Rakete auf Nato-Territorium könne dabei neben einer möglichen Absicht vor allem dem Wetter oder einer technischen Panne geschuldet sein.

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist Polen neben den baltischen Ländern und Finnland ein Frontstaat der Nato und die logistische Nabelschnur der Ukraine zum Westen. Auch deshalb spielt bei Polens Aufrüstung sogar die nukleare Dimension eine immer gewichtigere Rolle, wie das Magazin Internationale Politik berichtet hat: So bekräftigte der ehemalige Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im Juni 2023 Polens Bereitschaft, im Rahmen der nuklearen Teilhabe der Nato Atomwaffen auf polnischem Staatsgebiet zu stationieren.

Der amtierende polnische Regierungschef Andrzej Duda hatte Ende April bekräftigt zur Stationierung von Atomwaffen auf polnischem Staatsgebiet bereit zu sein, wie ihn die Tagesschau zitiert. Insofern scheint Polen für seine Verteidigung jetzt alle Register ziehen zu wollen. Vielleicht auch ohne das Plazet der Nato; mit der jüngsten Aussage galoppiert Sikorski seinen Kabinettskollegen davon. Władysław Kosiniak-Kamysz betonte jetzt gegenüber Polskie Radio, „dass Polen in dieser Angelegenheit keine Entscheidungen allein treffen werde und dass es die Entscheidung der gesamten Nato sein müsse“. Allerdings ließ der stellvertretende Ministerpräsident und Verteidigungsminister ein Hintertürchen offen.

Polens Bemühungen: Wehrhaftigkeit gegenüber Putin, Gehorsam gegenüber Biden

Der Minister fügte laut Polskie Radio hinzu, dass die Nato dazu keine Zustimmung geben werde und nahm Rückgriff auf die Entscheidungen der Regierung von US-Präsident Joe Biden – eine Eskalation des Konflikts sei zu vermeiden. „Natürlich gibt es in Bezug auf Raketen auf dem Territorium der Republik Polen noch andere Verfahren. Dann sei es unsere Entscheidung“, sagte er. Das könnte bedeuten, Polen halte sich die letzte Entscheidung offen. Mit Hinhalten und Taktieren sei aber kein Gewinn zu erzielen, kritisiert Politico und zitiert Jade McGlynn: „Die Politik des Inkrementalismus des Westens funktioniert nicht“, sagte die Dozentin für Kriegsstudien am King’s College in London dem Magazin.

Eine „,one size fits all‘-Lösung zur Abwehr von Russlands diversen Langstreckenwaffen“ sei ohnehin illusorisch, schreibt Lydia Wachs von der Stiftung Wissenschaft und PolitikSie fordert eine „integrierte Luftverteidigungs­architektur“, also eine strategisch ausgearbeitete Verknüpfung verschiedener Wirkmittel, die Sicherheit schafft über Land, über der See, in der Luft sowie im Cyber- und Weltraum. Polen scheint seine Hausaufgaben zu machen. Der Spiegel berichtete Ende Mai von einem Raketen-Großeinkauf der Polen in den USA: Raketen mit einer Reichweite von rund 1.000 Kilometern.

„Die Luft-Boden-Marschflugkörper vom Typ JASSM (Joint Air-to-Surface Standoff Missile) sollen demnach zwischen 2026 und 2030 von Washington an Warschau geliefert werden. Polen verfügt bereits über JASSM-Raketen mit einer Reichweite von 370 Kilometern“, schreibt der Spiegel. Mit dem Waffenkauf wolle Warschau demnach seine Verteidigungskapazitäten zur Abwehr möglicher Aggressionen zusätzlich zum „Schutzschild Ost“ weiter stärken. Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz erläuterte dazu laut dem Nachrichtenmagazin: Am Ukraine-Krieg sei abzulesen, wie wichtig es sei, Raketen auf weit von der Frontlinie entfernte Ziele abfeuern zu können.

Auch interessant

Kommentare