Hunderte Kilometer Oberleitungen in vier Jahren: So zügig ging die Bahn-Elektrifizierung in den 1920er-Jahren

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Das Foto zeigt Wartungsarbeiten in den 1920er Jahren auf einem Turmtriebwagen der Fahrleitungsmeisterei Tutzing. © Bretting

Aus heutiger Sicht erscheint die Hinwendung zum Strombetrieb logisch und folgerichtig. Doch die Entwicklung war holprig. Am Anfang stand ein Rohrkrepierer – gefolgt von einem Modell für halb Europa und von einer schwindlig machenden Rekordbauzeit.

Weilheim – Am 23. Februar 1925 fuhr der erste planmäßige elektrische Zug von Garmisch-Partenkirchen über Weilheim nach München; die Kochelseebahn stromerte ab 4. März. Anlass genug für die Bahnfahrer-Interessenvertretung „Pro Bahn“, an das Jubiläum zu erinnern.

Der Raum in der Gaststätte „Neuner“ (jetzt „Trattoria“) fasste nur mit Mühe die gut 30 gekommenen Mitglieder und externe Interessenten. Denn, so „Pro Bahn“-Oberbayern-Vorsitzender Norbert Moy: „Früher hat die DB ihre Jubiläen noch mit Sonderfahrten und Fahrzeugparaden gefeiert, heute erinnert nur ‚Pro Bahn‘.“

Erster Referent war der Seehausener Max Policzka. Der Vorstand vom Verein „historisches Bahnwasserkraftwerk Kammerl“ arbeitete einst in leitender Position in der „Fahrleitungsmeisterei Murnau“ und war somit der Chef der elektrischen Oberleitungen der Region. Diese nahmen nicht umsonst ihren Ausgang in Oberammergau, weil die 1897 zum Bau genehmigte Lokalbahn die Passion nicht mit Dampflok-Lärm stören sollte. Zudem wurde den Anliegergemeinden ein Anschluss an die Stromversorgung versprochen. „Das war ein riesiges Werbeargument damals.“ Und tatsächlich speiste das Bahnkraftwerk Kammerl ein Drittel seines Stroms ins Netz der späteren Isar-Amper-Werke und somit in die Dörfer.

Kuppeltrafo für fallweisen Stromaustausch in Murnau

Für die Ammergauer Bahnlinie gab’s in der Oberleitung zunächst Dreiphasenwechselstrom. Dieser war jedoch für den Zugbetrieb so problematisch, dass die Bahn-Betreiberfirma bereits Ende 1900 in Konkurs ging. Bis 1904 erfolgte der Umbau von Kraftwerk und Strecke auf einen Betrieb mit 5,5 kV und 16,0 Hertz, letzteres fast schon punktgenau der heutige Standard. Für den elektrischen Verkehr im „großen“ Werdenfelsnetz galt die 1912 staatsvertraglich zwischen Bayern, preußisch Hessen und Baden vereinbarte Norm von 15 KV und 16,66 Hertz, was den Impuls der österreichischen Mittenwaldbahn berücksichtigte.

„Ein Unterwerk in Murnau mit wassergekühlten Transformatoren diente seit Ende 1924 zur Einspeisung vom neuen Walchenseekraftwerk“, wusste Policzka, „außerdem gab es in Murnau einen Kuppeltrafo für den fallweisen Stromaustausch zwischen der Ammergaubahn und der großen Strecke.“ 1953 übernahm die Oberammergauer Strecke den Normalstrom, wozu auch mehr Masten benötigt wurden, „viele davon vom aufgegebenen Zweigleisabschnitt Murnau-Huglfing.“

Schwere Züge fuhren mit Dampf

Für die Fahrgäste zählte wohl weniger die Frequenz über ihren Köpfen als die Fahrzeit ihrer Züge. Und die wurde durch den elektrischen Betrieb um mindestens ein Drittel gesenkt. „Außerdem wurden Flächen, wo man Dampfloks versorgt hatte, durch den Strombetrieb frei“, ergänzte Norbert Moy. Auf Kohle eingerichtet blieb indes der Bahnhof Weilheim, denn auf den stromfreien Abschnitten Peißenberg-Schongau sowie Weilheim-Geltendorf wurden schwere Züge weiterhin mit Dampf befördert, bis der Dieselbetrieb übernahm – auch in den 1980er Jahren schon durchmixt mit Akkutriebwagen, wie Norbert Moy anhand alter Bilder bewies.

Der Weilheimer gestaltete seinen Teil des Vortrags mit historischen Fotos – darunter viele Fundstücke, deren Örtlichkeiten für Rätselrunden im Saal sorgten, denn kaum jemand erkannte die seit rund 60 Jahren vergessenen Bahnübergänge an der Trifthofstraße und bei Oderding. Neben diesem Unterhaltungsfaktor erinnerte Moy an das vor 100 Jahren noch mögliche Ausbautempo der Bahn: „1925 bis 1928 wurden allein in Südbayern 588 Kilometer Strecke unter Strom genommen.“ Und „wie viele waren es 2023? – ganze 13.“

„Und weiß jemand, warum es keinen Strom zwischen Weilheim und Geltendorf gibt?“, setzte Lokführer Josef Landes die gesellige Fragerunde fort. Niemand wusste eine Antwort. „Weil es im Winter oft Funkenschlag an der Oberleitung gibt und das hätte die Satellitenübertragung in Raisting gestört“, wusste der Eglfinger. Staunend und hoch konzentriert waren die Zuhörer dabei und wurden von Nostalgie darüber beschlichen, dass das Werdenfelsnetz einstmals technisch privilegiert dastand.

600 Kilometer Oberleitungen in vier Jahren

Die derzeit in Planung befindlichen Strom-Abschnitte im Allgäu und bei Weilheim stießen auf die Kritik der Fahrgastvertreter, denn in den Ausbauplänen der Staatsregierung fehlen oftmals nur wenige Kilometer Oberleitung, um durchgängig unter Fahrdraht bleiben zu können. So eine Flickerlteppich-Oberleitung reiche zwar für Akkuzüge im Nahverkehr, sie genüge aber nicht, um auch mal einen Fernzug verkehren lassen zu können.

Für jeden Anwesenden war klar, warum künftige Ausbaupläne für akkubetriebene Züge maximal eine Stromleitung Weilheim-Dießen vorsehen, jedoch keine zwischen Dießen und Geltendorf: „Weil der politische Wille fehlt“, so die Fahrgastvertreter. „Und außerdem haben wir nur noch verschwindend wenig Fachpersonal für Elektrifizierungen“, beklagte Nobert Moy.

Ein Schub von fast 600 Kilometern neuen Oberleitungen, der vor einem Jahrhundert noch in vier Jahren möglich war, würde heute eher ein Jahrzehnt dauern. „Da bekommt man Respekt vor unseren Vorfahren“, schloss Moy, gerade, auch wenn man bedenke, dass die Mittenwald-Frequenz der Oberleitung – und mithin die des Werdenfels-Netzes – auch von der Schweiz, von Schweden und von Norwegen übernommen wurde. „Wir wohnen hier historisch bedeutsam, nämlich an Impulsgebern des modernen Bahnbetriebs.“

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