Nie in der Geschichte der Menschheit gab es so viel zu wissen. Und doch sehen wir heute so viele Menschen, die lieber glauben wollen – und das völlig losgelöst von jeder Faktenlage. Wir sind angekommen im Medien-Mittelalter. Es ist eine Zeit, in der Glaubenskriege ausgetragen werden, Kreuzzüge geführt und, zumindest virtuell, die Flammen lodern zur Verbrennung von Hexen und Hexern.
Politische Kommunikation: Merz und die öffentliche Debatte über das Stadtbild
An mediale Steinigungen haben wir uns längst als selbstverständlich gewöhnt. Nehmen wir unseren Bundeskanzler. 16 Redesekunden von Friedrich Merz, gesprochen schon am 14. Oktober, bestimmen mit einer Woche Verspätung die Diskussion. Hoch schlagen die Wogen der Empörung – auch in den öffentlich-rechtlichen Hauptnachrichten. Wie fair sind ARD und ZDF? Und: Entspricht die veröffentlichte Meinung der öffentlichen Meinung?
Nüchtern betrachtet geht es in all der Aufregung um diesen einen Satz: „Bei der Migration sind wir sehr weit – wir haben in dieser Bundesregierung die Zahlen August 2024, August 2025 im Vergleich um 60 Prozent nach unten gebracht, aber wir haben natürlich im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“ 54 Worte, aus denen zwei herausgelöst werden: „STADTBILD“ und „PROBLEM“.
Stimmung in der Bevölkerung: Mehrheit unterstützt Merz
Und doch: Der Rest des Satzes kommt der Mehrheit der Menschen im Land und ihrer Erwartungshaltung an die Politik entgegen. Am Freitag veröffentlicht das ZDF sein Politbarometer-Extra. 63 Prozent der Befragten finden: Der Bundeskanzler hat mit seiner Aussage recht. Das ist die Stimmung. Die Stimmen in den Hauptnachrichtensendungen vermitteln allerdings ein ziemlich anderes Bild.
Lautsprecher dominieren die Nachrichten
Die ARD-Hauptnachrichtensendung „Tagesschau“ vom Mittwoch widmet dem Thema mehr als zwei Minuten und lässt den SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil mit seiner Partei auf Distanz gehen: „Ich möchte in einem Land leben, in dem Politik Brücken baut und Gesellschaft zusammenführt, statt mit Sprache zu spalten.“ Da muss der Vizekanzler den Kanzler schon ziemlich bösartig missverstanden haben.
Natürlich bekommen auch die üblichen Lautsprecher in den öffentlich-rechtlichen Nachrichten ihren Raum. Linken-Co-Chef Jan van Aken empört sich: „Ein rassistischer Ausfall!“ Und wie stimmt Grünen-Co-Fraktionschefin Katharina Dröge ein? Drei Worte, drei Ausrufezeichen, drei Aufschreie: „Verletzend! Diskriminierend! Unanständig!
TV-Analyse: Empörung versus Realität
Tags zuvor eröffnet die „Tagesschau“ die Nachrichten mit dieser für sie offensichtlich wichtigsten Meldung: „Wer gehört in Deutschland dazu – und wer wird als Fremder gesehen, vielleicht sogar als Bedrohung?“ Zu sehen sind Schilder mit der Aufschrift: „Töchter gegen Merz!“ Ganze fünf Minuten, also ein Drittel der Sendezeit, geht es um Merz und seine zwei Worte. Und in der Hauptsache: um Kritik an ihm.
„Empörung und Wut, aber auch Zustimmung“, berichtet ZDF-„heute“ am selben Tag – auch hier über fünf Minuten. „Es ist eine aufgeheizte Debatte über Sprache und Wahrnehmung – und auch darüber, welches Bild von Deutschland gezeichnet wird“, erfährt der Zuschauer hier. Das klingt nach Analyse. Tatsächlich aber wird weiter mitgeheizt. „Der darf das nicht sagen“, spielt das ZDF eine Stimme vom Kölner Dom ein.
Öffentliche Wahrnehmung: Angst an öffentlichen Plätzen
Und aus Mecklenburg-Vorpommern, dem Bundesland mit der geringsten Ausländerzahl, kommentiert Reporterin Susanne Seidl vom ZDF-Studio Schwerin zum Abschluss ihres Beitrags trotzig: „Der Marienplatz in Schwerin ist und bleibt ein Ort, wo Menschen mit Migrationshintergrund zum Stadtbild gehören.“
Der Vollständigkeit halber: Der Bundeskanzler hat Menschen mit Migrationshintergrund nicht als Bausünden und Konstruktionsfehler der innerstädtischen Architektur bezeichnet. Das „heute-journal“ vom Mittwoch gibt ihm Raum, seine zwei Worte zu präzisieren. Sicherheitshalber liest er jetzt Wort für Wort vom Blatt ab.
Die Angst vieler Deutscher, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, komme von denen, „die keinen dauerhaften Arbeitsstatus haben, die nicht arbeiten und die sich nicht an unsere Regeln halten. Viele von denen bestimmen das öffentliche Bild in unseren Städten – deshalb haben auch so viele Menschen einfach Angst, sich im öffentlichen Raum zu bewegen“.
Die späte Bestätigung liefert zum Ende dieser Woche wieder das ZDF-Politbarometer. 33 Prozent der Deutschen, so das Ergebnis der repräsentativen Umfrage, fühlen sich an öffentlichen Orten und Plätzen unsicher. Die öffentliche Meinung und die veröffentlichte Meinung: Sie unterscheiden sich deutlich – auch in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen dieser Woche.