Putins Truppen werden im Ukraine-Krieg siegessicher - und selbstgefällig

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Der Ukraine gehen die Granaten aus, was Russland zum Übermut verführt. Ursachen für das Desaster meinen Beobachter auch in Deutschland zu finden.

Lyssytschansk – Marco Seliger sieht die Wurzel des Übels in Troisdorf, einem Städtchen, kleiner als 100.000 Einwohner, an der südlichen Peripherie der Rheinmetropole Köln gelegen. 50 Stadtverordnete aus neun Parteien sorgen sich im Rat um das Wohl ihrer Heimat; stärkste Fraktion ist die CDU. In der Neuen Zürcher Zeitung schreibt Seliger, dass sie erst Ende vergangenen Jahres dem Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ein Bein gestellt haben.

Die Troisdorfer Stadtverordneten tragen nach Seligers Meinung dazu bei, die Ukraine im Kampf gegen das Russland des Imperialisten Wladimir Putin am langen Arm verhungern zu lassen. Die Verteidiger haben Schätzungen zufolge einen täglichen Bedarf von mehr als 5.000 Granaten; ohne Hoffnung, den decken zu können. Aktuell berichtet Forbes darüber, dass die Russen im Ukraine-Krieg ihr Feuer auf exponierte Stellungen ihrer Gegner zusammenfassen in dem Wissen, dass die Ukraine kurz davor steht, ihr Pulver gänzlich verschossen zu haben, und sie mit keiner Antwort zu rechnen brauchen.

In Troisdorf werden seit mehr als 100 Jahren Sprengstoff und andere Vorprodukte für die Herstellung von Munition hergestellt. In einem Gewerbegebiet hat zum Beispiel die Firma Dynitec mit mehreren Produktionsanlagen ihren Sitz. Dynitec gehört dem deutschen Rüstungsunternehmen Diehl Defence aus Überlingen am Bodensee. Das Rüstungsunternehmen Diehl Defence ist aktuell vor allem für sein Flugabwehrsystem Iris bekannt. Aber Diehl stellt in großem Umfang auch Munition her, darunter Flugabwehr- und Lenkflugkörper, Artillerie- und Granatenmunition, Raketen und 40mm-Munition.

Um die Produktion zu steigern, wollte Dynitec nach NZZ-Recherchen sein Werk in Troisdorf erweitern – Ziel war, nach Unternehmensangaben, die Verdreifachung der Produktionsmenge. Dazu beabsichtigte Diehl, bisher nur gemietete Flächen in dem Gewerbegebiet zu kaufen. Doch die Stadt Troisdorf machte Diehl einen Strich durch diese Rechnung – der Stadtrat beschloss mit den Stimmen der Christdemokraten sowie der Grünen, ein Vorkaufsrecht für die von Diehl benötigten Flächen zu erlassen und bremste das Unternehmen damit in seiner Expansion aus.

Leere Versprechungen an die Ukraine statt Hilfe gegen Russlands Artillerie

Die Mehrheit im Stadtrat wolle mit der Vorkaufssatzung verhindern, dass Dynitec die Sprengstoffproduktion so ausweitet, dass weitere, riesige Abstandsflächen nötig würden, teilte die Stadtverwaltung der NZZ mit. Solche Flächen sind bei der Herstellung von Spreng- und Kampfmitteln erforderlich, um im Fall von Explosionen auf dem Betriebsgelände die umliegenden Wohngebiete nicht zu gefährden. Eine Vergrösserung des Produktionsstandorts führte langfristig zu großen Brachflächen, die für andere Nutzungen wie Unternehmensansiedlungen oder Wohnungsbau nicht mehr zur Verfügung stünden, erklärt die Stadt gegenüber der Zeitung weiter.

Mangelware: Ein ukrainischer Soldat holt die Munition für einen Mörser.
Mangelware: Ein ukrainischer Soldat holt Munition für einen Mörser. Die knappen Bestände verleiten Russland zu massierten Artillerie-Schlägen. © IMAGO / ABACAPRESS

Forbes-Autor David Axe spricht aktuell von Verrat gegenüber der Ukraine. „Während die Artillerie der Ukraine noch im vergangenen Sommer gleichauf mit der russischen Artillerie, wenn nicht sogar überlegen war, haben die Russen inzwischen einen fünffachen Vorteil erlangt. Ukrainische Batterien feuern täglich rund 2.000 Granaten ab, russische Batterien 10.000.“ Er nennt als Beispiel für die russische Aktivität den Beschuss einer Stellung für fast 20 Geschütze oder Selbstfahr-Lafetten außerhalb von Lyssytschansk, rund zehn Kilometer entfernt von der Front in der ostukrainischen Oblast Luhansk – Russland holt möglicherweise Luft für eine eigene Offensive.

Versprechen an die Ukraine: Umfangreiche Lieferungen erst im kommenden Jahr

Der im November von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius ausgesprochene Marschbefehl zur Aufmunitionierung der Ukraine ist längst zum Waterloo der deutschen Leistungswilligkeit geworden. In dem 1,3 Milliarden Euro schweren weiteren deutschen Hilfspaket stecken neben anderem vier weitere Luftverteidigungssysteme Iris T-SLM sowie Panzerabwehrminen und Artilleriegranaten des Nato-Kalibers 155 Millimeter. Das ist die dritte Tranche an Iris-T-Systemen, die Deutschland seit Beginn des russischen Großangriffs im Februar 2022 an die Ukraine liefert. Drei Systeme wurden bereits verschickt, die zweite Tranche soll 2024 folgen; die nun versprochene dritte Tranche dann ein weiteres Jahr später. „Wir reden von 20.000 zusätzlichen Granaten“, sagte Pistorius dem Handelsblatt zum Umfang des gesamten Pakets an Artilleriemunition. Für das vergangene Jahr seien ihm zufolge bereits 140.000 Granaten des Nato-Kalibers angekündigt gewesen. Umfangreiche Lieferungen stellte Pistorius erst für 2025 in Aussicht.

Arten militärischer Munition

Gewehr- und Pistolenmunition: Munitionstypen, die in Gewehren und Pistolen verwendet werden. Sie können verschiedene Kaliber und Geschosstypen haben, darunter Vollmantelgeschosse, Hohlspitzgeschosse und Teilmantelgeschosse.

Artillerie- und Granatmunition: Munitionstypen zum Abschuss in Artilleriewaffen wie Haubitzen, Mörsern und Panzerabwehrkanonen. Sie können verschiedene Arten von Granaten umfassen, beispielsweise Sprenggranaten, Panzergranaten und Nebelgranaten.

Raketen: Lenkwaffen, die ein Ziel mit hoher Präzision treffen können. Es gibt verschiedene Arten von Raketen, beispielsweise Flugabwehrraketen, Lenkflugkörper und Seezielflugkörper.

Lenkflugkörper: Präzisionsgelenkte Munition, die mit hoher Geschwindigkeit fliegt und ein Ziel mit hoher Genauigkeit treffen kann. Es gibt verschiedene Arten von Lenkflugkörpern, beispielsweise Luft-Boden-Lenkflugkörper, Luft-Luft-Lenkflugkörper und Seezielflugkörper.

Flugabwehrmunition: Geschosse zur Abwehr von Luftangriffen; sie umfassen Flugabwehrmunition und Flugabwehrraketen.

Panzerabwehrmunition: Geschosse zur Bekämpfung gepanzerter Ziele; sie umfassen verschiedene Arten von Panzerabwehrgranaten und Panzerabwehrraketen.

Quelle: Produktion-Magazin – Technik und Wirtschaft für die deutsche Industrie

Die Militäranalysten des ukrainischen Thinktanks Frontelligence Insight wollen beweisen können, dass die russischen Artilleristen gerade versuchen, ihre Ziele jetzt endgültig zu Schutt und Asche zu legen. Zum Jahreswechsel, als die Ukraine mit einem Mangel an Artilleriemunition zu kämpfen hatte, beobachtete Frontelligence Insight einen Trend: Die russischen Streitkräfte wurden selbstgefällig und hielten ihre Artillerie über längere Zeiträume in statischen Positionen stationiert – manchmal über Monate hinweg. Diese Unbekümmertheit war darauf zurückzuführen, dass die Ukraine nicht in der Lage war, der russischen Artillerie wirksam zu antworten. Die Situation hielt an, bis die Ukraine diese Artilleriestellungen gezielt angriff, überwiegend mit Himars und Artillerie sowie FPV-Drohnen (First Person View).

Die Versorgung mit Artilleriemunition aus Südkorea, auf Betreiben der USA, spielte eine wichtige Rolle und ermöglichte den Ukrainern, im Laufe der Zeit Hunderte russischer Artilleriegeschütze zu neutralisieren. Jetzt scheinen die Russen wieder zu alter Form aufzulaufen, wie Frontelligence Insight anhand von Satellitenbildern der 1.000 Kilometer umfassenden Front festgestellt haben will. Die Analysten sehen darin keinen Vorboten einer ukrainischen Kriegsmüdigkeit, den Verteidigern fehlen schlichtweg die Sprengkörper.

Verärgerung in Sachsen: Keine Pulverfabrik nördlich von Dresden

Auch das deutsche Unternehmen Rheinmetall würde gern liefern – beispielsweise Patronen Kaliber 35x228 Millimeter für den deutschen Flugabwehrkanonen-Panzer Gepard. Das Unternehmen stellt unter anderem Artillerie- und Granatenmunition, Luftverteidigungsraketen, Lenkflugkörper und Übungsmunition her. Der Gepard verballert aus seinen zwei Oerlikon-Maschinenkanonen insgesamt 1.100 Schuss. Pro Minute. Für die Ukraine gilt der Gepard als effektive Waffe der Ukraine im Krieg gegen die Invasionsarmee Wladimir Putins. Noch. Denn wann Rheinmetall seine Produktion entsprechend dem akuten Bedarf erweitern kann, steht in den Sternen.

Anfang 2023 soll Rheinmetall erwogen haben, ihre beiden Standorte in Ungarn und Bayern um eine Pulverfabrik in Sachsen zu erweitern. Dazu sollte nach Angaben der Neuen Zürcher Zeitung eine Gewerbefläche auf einem ehemaligen Militärflugplatz der Stadt Grossenhain nördlich von Dresden (Landkreis Meissen) bebaut werden. Ergebnis: Die Linkspartei rief zur Unterschriftenaktion gegen die Pulverfabrik auf. 16 von 22 Stadträten sprachen sich in einem offenen Brief an Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gegen die Pulverfabrik aus. Rheinmetall wich dann nach Ungarn aus.

Versorgung der Truppe: Deutschland erhält Munition für vier Wochen intensiven Gefechts

Dass in Europa Krieg herrscht, gehe immer noch vielen Deutschen und einigen deutschen Politikern über deren Verstand – das kritisiert zumindest Deutschlands Militärhistoriker Sönke Neitzel; und die Möglichkeit, dass Russland diesen Krieg gewinnen könnte, führt immer noch zu Überraschung, was die taz zur Frage an ihn veranlasste: Die Politik will oder kann nicht vorausschauend agieren, deshalb will und muss sie überrascht sein, wenn das passiert, auf das sie uns nicht vorbereitet hat? Neitzel: „Ja, genau. Politik will von Eindeutigkeit ausgehen. Politik will sagen: Was wir getan haben, ist das Einzige, was wir tun konnten. Überraschung übernimmt hier eine Art Schutzfunktion. Wenn ich überrascht bin, wenn ich Dinge gar nicht voraussagen kann, dann trifft mich ja auch keine Schuld.“

Politik will von Eindeutigkeit ausgehen. Politik will sagen: Was wir getan haben, ist das Einzige, was wir tun konnten.

Der Munitionsmangel war absehbar, weil die Truppe längst darüber geklagt hatte. Die Überraschung über den Einmarsch Russlands, schützt diejenigen, die Vorkehrungen zumindest fahrlässig verschlafen haben, sagt Historiker Neitzel: „Die 100 Milliarden Euro-Investitionsankündigung in die Bundeswehr hat sich Olaf Scholz ja auch nicht binnen drei Tagen ausgedacht. Das war die Summe, die die Bundeswehrplaner seit Jahren in der Schublade hatten, um die Streitkräfte wieder in einsatzbereiten Zustand zu bringen. Was Scholz dann versucht hat, war zu argumentieren, dass das der einzige Schritt war, den die Regierung zu diesem Zeitpunkt gehen konnte.“

Die Bundeswehr selbst geht auf dem Zahnfleisch; wie das Organ Bundeswehr-Journal berichtet, soll Deutschland aktuell gerade mal so viel Munition besitzen, um sich zwei Tage verteidigen zu können. Der Deutsche Bundeswehr-Verband warnte bereits mehrfach vor einem gravierenden Mangel an „Munition im Wert von 20 bis 30 Millionen Euro“, wie die Interessenvertretung der Soldaten schreibt. Im Dezember dann, im Rahmen von Pistorius‘ Ankündigung der Granaten-Lieferung, äußerte Oberst i.G. Arne Collatz, Referatsleiter „Presse“ im Bundesministerium der Verteidigung: bis 2031 solle die Bundeswehr ausgestattet sein mit einem Munitionsvorrat für 30 Tage, wie er wörtlich sagte, „hochintensiven Gefechts“. Hintergrund der Zahlen sind die Vorgaben der Nato.

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