Brigadegeneral über den Ukraine-Krieg: „Der Westen muss Stärke entwickeln“
Im Ukraine-Krieg stagnieren die beiden Armeen. Brigadegeneral a.D. Armin Staigis spricht im Interview über die Kämpfe und die Hoffnung auf Frieden.
München – Die ukrainische Offensive hat nicht den erhofften Erfolg gebracht, jetzt setzt der Winter den Truppen zu. Das aktuelle Patt nutze vor allem Russland, sagt Armin Staigis (72). Der Brigadegeneral a.D., der in seiner Laufbahn unter anderem im Bundeskanzleramt und im Nato-Hauptquartier arbeitete und deutsche Truppen in Bosnien-Herzegowina kommandierte, spricht im Interview über den Kriegsverlauf – und entwirft ein Verhandlungsszenario.
Herr Staigis, der ukrainische Oberbefehlshaber Saluschnij hat eine ernüchternde Bilanz der Offensive gezogen. Steht Kiew militärisch vor dem Scheitern?
Das denke ich nicht. Es ist erstaunlich, was die Ukraine bis zum heutigen Tag militärisch geleistet hat – denken Sie nur an die Erfolge im Norden bei Charkiw, die für die Russen völlig überraschend kamen. Das war aber letztes Jahr, diesmal konnten sich die Russen auf die Sommeroffensive vorbereiten. Sie haben Verteidigungsbefestigungen riesigen Ausmaßes aufgebaut. Deshalb war kaum zu erwarten, dass die Offensive durchschlägt.
Tragen wir eine Mitschuld, weil wir die Waffen zu zögerlich geliefert haben?
Das gehört sicher zur Wahrheit dazu. Jetzt ist man militärisch in einer Patt-Situation, die den Russen mehr nutzt. Sie rechnen damit, dass die Bereitschaft des Westens, die Ukrainer zu unterstützen und die damit verbundenen Lasten zu tragen, nachlassen wird. Natürlich nutzt ihnen das Patt auch, weil sie ganz andere Potenziale haben, sich militärisch wieder zu verstärken.
Was folgt daraus? Muss die Ukraine verhandeln – oder müssen wir sie noch stärker unterstützen?
Zuerst müssen wir fragen, was die Ukrainer wollen. Sie sind ein souveränes Volk, dessen Willen zu akzeptieren ist. Dann müssen wir daraus eigene Schlussfolgerungen ziehen. Wenn wir der Grundprämisse folgen, dass wir einem Aggressor im 21. Jahrhundert keinen Erfolg zubilligen wollen, bleibt es unsere Verpflichtung, die Ukraine weiter zu unterstützen.
Sollten wir also die Taurus-Raketen schicken, die die Ampel noch verweigert?
Ich finde, wir sollten uns weniger mit einzelnen Waffensystemen beschäftigen und stattdessen strategisch denken. Was wollen wir, was ist dazu notwendig? Wenn Sie aber schon fragen: Ich persönlich kann verstehen, dass die Regierung bei Taurus unter Berücksichtigung der eigenen Bestände und des möglichen Eskalationspotenzials zurückhaltend ist.
Wissen wir in Deutschland eigentlich, was wir wollen? Der Kanzler spricht noch immer nicht von einem Sieg der Ukraine.
Russland ist die größte Nuklearmacht der Welt und es ist unglaublich schwer einzuschätzen, wie rational im Kreml noch entschieden wird. Die Frage, die sich also stellt, ist die, ob wir im Westen im ausreichenden Maße risikobereit sind. Einige sprechen inzwischen sogar von Selbstabschreckung.
Zumindest der Ton ist ein anderer. Boris Pistorius hat für den Satz, Deutschland müsse kriegstüchtig werden, viel Kritik kassiert. Hat er sich falsch ausgedrückt?
Da treffen Sie jetzt bei mir einen Punkt. Ich kann mit dem Begriff der Kriegstüchtigkeit nicht sehr viel anfangen, auch wenn ich ehemaliger Soldat bin. Von seiner inneren Ausrichtung auf der Grundlage des Grundgesetzes ist der Soldat der Bundeswehr kein Soldat des Krieges, sondern einer des Friedens. Ich hätte es für angebracht gehalten, wenn Minister Pistorius weiterhin von Einsatz- und Verteidigungsbereitschaft gesprochen hätte, die es gerade jetzt herzustellen gilt. Aber Sprache und Diktion erzielen Wirkung innerhalb der Bundeswehr und in der sie tragenden Gesellschaft. Der Begriff der Kriegstüchtigkeit dürfte sich in beiden Sphären als kontraproduktiv erweisen.
Rechnen Sie im Winter mit Offensiven?
Beide Seiten sind zurzeit strategisch und operativ nicht angriffsfähig. Ich gehe davon aus, dass es, abgesehen von taktischen Gefechten, erst mal bei einem Patt auf dem Schlachtfeld bleiben wird. Die Russen werden aber sicher versuchen, die ukrainische Infrastruktur zu treffen und den Winter für die Menschen so hart wie nur möglich werden zu lassen.
Wie im vergangenen Jahr ...
Vielleicht sogar noch härter. Die Russen haben zwei Zermürbungsziele: Das eine sind die Ukrainer selbst, die im Grunde seit 2014 Unglaubliches ertragen. Das zweite Zermürbungsziel sind wir. Übrigens kann ich wenig mit dem Begriff von der Zeitenwende anfangen. Für die Ukrainer war die Zeitenwende nicht im Februar 2022, sondern vor neun Jahren bei der Besetzung der Krim durch Russland. Wir im Westen hätten schon damals Entwicklungslinien erkennen müssen und sollten jetzt daraus die Lehren für die Zukunft ziehen.
Sehen Sie eine Ukraine-Müdigkeit im Westen?
Müdigkeit ist nicht das richtige Wort. Die Unterstützung ist politisch umstritten, denken Sie an die harten Debatten über die Hilfen im US-Kongress. Viel wird davon abhängen, wie lange die Bevölkerungen durchhalten, wenn es wirklich das persönliche Leben des Einzelnen betrifft. Ich sage: Das muss es uns wert sein, wenn wir Frieden und Freiheit für uns erhalten wollen. Lassen wir auch nur die Bereitschaft erkennen, einen Teil der Ukraine abzutreten, ist das für ein autoritäres System wie Russland das Signal, weiterzumachen. Dann geht es um das Baltikum, um Polen. Und dann ist man nicht mehr weit von Berlin entfernt. Dieser Krieg ist ein Systemkonflikt zwischen Demokratie und Autokratie, letztlich um die politische Ordnung, in der wir zukünftig leben wollen.
Heißt das, Kiew sollte alle besetzten Gebiete inklusive Krim zurückzuholen?
Das ist meine Überzeugung. Die Frage ist nur, wie man es erreicht. Ob es nur mit militärischen Mitteln geht – oder ob es auch andere Wege gibt.
Andere Wege?
Wenn man den Russen klarmachen könnte, dass eine Zusammenarbeit mit dem Westen erst wieder möglich ist, wenn man auf den Status vor 2014 zurückgeht, wäre womöglich eine Verhandlungslösung denkbar. Dazu müsste die Nato aber bereit sein, jeden Zentimeter des Bodens, der zum Zeitpunkt eines Waffenstillstands unter ukrainischer Kontrolle ist, zu verteidigen.
Moment, die Nato müsste mit Kriegseintritt drohen?
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach davon, dass man jeden Quadratzentimeter des Bündnisgebiets verteidigen werde, er meinte das Baltikum und Polen. Diesmal müsste die Nato der Ukraine bis zu einer Waffenstillstandslinie Schutz geben. So könnte man den Fehler des Minsk-2-Abkommens vermeiden. Damals wussten die Russen, dass sie weiter aggressiv vorgehen können, ohne Konsequenzen.
Das setzt aber eine gewaltige Risikobereitschaft des Westens voraus ...
Natürlich. Dabei wäre es auch ein wichtiges Signal, dann Nato-Truppen in der Ukraine zu stationieren.
Aber die besetzten Gebiete wären verloren.
Das wäre nur ein Zwischenschritt. Ziel müsste es sein, am Verhandlungstisch darüber zu sprechen, wie die Ukraine ihr ganzes Staatsgebiet zurückbekommt.
Warum sollte sich Russland auf so etwas einlassen?
Weil es einen Anreiz gibt: Man könnte den Russen in Aussicht stellen, sie wieder vollumfänglich in die internationale Gemeinschaft aufzunehmen. Das mag alles sehr unwahrscheinlich klingen. Aber die Alternative ist, dass das Blutvergießen weitergeht, und zwar ohne Aussicht auf eine Lösung.
Mit Wladimir Putin ist das wohl kaum machbar ...
Da würde ich auch große Fragezeichen setzen. Es geht nur auf einem Weg: Der Westen muss Stärke entwickeln und bereit sein, für seine Freiheit einzustehen. Dann haben wir eine Chance. Die Mauer ist 1989 in einem Moment eingestürzt, als der Westen in allen Belangen so stark war wie nie zuvor. Damals hatte der Sowjetblock keine andere Chance, als sich zu öffnen.
Ist der Krieg militärisch noch zu gewinnen?
Die Ukrainer haben Grandioses geschafft. Aber dafür sind sie auf absehbare Zeit militärisch wohl zu schwach.
Interview: Georg Anastasiadis und Marcus Mäckler