75 Jahre Volksrepublik China: „Für Xi Jinping ist Geschichte zentral zur Legitimation der Parteiherrschaft“

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Die Volksrepublik China feiert den 75. Jahrestag ihrer Gründung. Offen gesprochen werden darf über ihre teils dunkle Geschichte aber nicht.

Am 1. Oktober 1949 rief Mao Zedong auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking die Volksrepublik China aus. In den folgenden Jahrzehnten fielen unzählige Menschen der Herrschaft des Diktators zum Opfer. Alleine während der Kampagne des „Großen Sprungs nach vorn“ starben bis zu 55 Millionen Menschen, später hinterließ die von Mao losgetretene „Kulturrevolution“ ein traumatisiertes Land.

Eine Frau hängt ein Bild von Xi Jinping wird zwischen zwei Bilder von Mao Zedong
In Yan‘an, einem für die Kommunistische Partei zentralen Ort, wird ein Porträt von Xi Jinping wird zwischen zwei Bilder von Mao Zedong gehängt. © Hector Retamal/AFP

Zum 75. Jahrestag der Staatsgründung werden die dunklen Kapitel der chinesischen Geschichte weitgehend ausgeblendet. Woran sich erinnert werden darf, bestimmt alleine die Kommunistische Partei unter Xi Jinping. „Es ist eine Entmündigung des Volkes“, sagt der Sinologe Daniel Leese im Interview. „Die Partei traut den Menschen nicht zu, sich durch eine kritische Diskussion ein eigenes Urteil zu bilden.“

Herr Leese, wenn wir in Deutschland auf unsere eigene Vergangenheit blicken, ist es für uns selbstverständlich, auch dunkle Kapitel wie die NS-Zeit oder die SED-Diktatur nicht auszublenden. Wie ist das in China, das am 1. Oktober den 75 Jahrestag seiner Staatsgründung feiert?

Vor allem in den 80er-Jahren gab es in China in Teilen der Wissenschaft eine relativ starke Bewegung, die ganz ähnliche Ansprüche gestellt hat: dass man aus der Geschichte lernen müsse, damit sich erlebtes Unglück nicht wiederholt. Die Mao-Zeit wurde seinerzeit intern intensiv diskutiert, vor allem der Umgang mit den Verbrechen, die während der Kulturrevolution begangen worden sind. Dieses „Nie wieder“ ist also auch der chinesischen Geschichtsschreibung nicht komplett fremd. Aber es ist ein Aspekt, der in den letzten Jahren an den Rand gedrängt worden ist.

Warum?

Für Xi Jinping ist Geschichte zentral für die Legitimation des Staates und insbesondere der Parteiherrschaft. Unter Xi sind Partei und Staat quasi miteinander verschmolzen, und deswegen hat die Partei ein enormes Interesse daran, nur eine bereinigte Version dessen zu erzählen, was geschehen ist. Würde sie zulassen, dass ihre eigene Geschichte und all die damit verbundenen Katastrophen kritisch durchleuchtet werden, dann geriete ihre Legitimation ins Wanken.

„Die Kommunistische Partei erfüllt die ‚historische Mission‘, China zu Macht und Reichtum zu führen“

Seit 2018 gibt es in China ein Gesetz, das es unter Strafe stellt, „die Taten und den Geist von Helden und Märtyrern zu verfälschen, zu verunglimpfen, zu entweihen oder zu leugnen“.

Dieser „Verunglimpfungsparagraf“ macht es sehr schwierig, über viele Aspekte der chinesischen Geschichte kritisch zu sprechen und unmöglich, darüber öffentlich zu schreiben. Zwar haben sich in den letzten zwei Jahren die Räume des Sagbaren im rein akademischen Kreis erstaunlicherweise wieder etwas geweitet. Ich erlebe bei Diskussionen mit chinesischen Kolleginnen und Kollegen wieder mehr Raum für Kritik. Aber das findet keinen öffentlichen Niederschlag.

Zur Person

Daniel Leese ist Professor für Sinologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Von ihm erschienen zuletzt „Maos langer Schatten. Chinas Umgang mit der Vergangenheit“ und „Chinesisches Denken der Gegenwart“ (zusammen mit Shi Ming).

Daniel Leese
Daniel Leese © privat

Was bedeutet es für ein Volk, nicht offen über die eigene Geschichte und die eigenen Erlebnisse sprechen zu dürfen?

Es ist eine Entmündigung des Volkes. Die Partei traut den Menschen nicht zu, sich durch eine kritische Diskussion ein eigenes Urteil zu bilden.

Wovor hat Xi Angst?

Nach dem Tod von Mao Zedong hat die Kommunistische Partei ihre Herrschaft vor allem über den Wirtschaftsaufschwung legitimiert: durch eine Art inoffiziellen Kontrakt zwischen Volk und Führung, der besagt, dass ein hohes Wirtschaftswachstum die Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei rechtfertigt. Weil sich aber das Wachstum spätestens seit der globalen Finanzkrise 2008 merklich abschwächt hat, hat Xi Jinping den Schwerpunkt darauf gelegt, auf andere Art Selbstbewusstsein zu generieren: nicht mehr durch Wirtschaftswachstum, sondern durch die eigene Geschichte und Kultur. In den Vordergrund rücken bei ihm der Erhalt und die Stärkung der Parteiherrschaft. Die Kommunistische Partei erfüllt demzufolge die „historische Mission“, China zu Macht und Reichtum zu führen. Das soll auch in schlechten Zeiten Zusammenhalt stiften.

„Xi Jinping glaubt, dass das Volk in Unwissenheit gehalten werden muss“

Man sollte meinen, Selbstbewusstsein erwächst auch daraus, die eigenen Fehler offen zuzugeben und daraus zu lernen.

Für Xi wäre das „historischer Nihilismus“. Er betrachtet es als Fehler, die Erzählung über die eigene Geschichte aus der Hand zu geben. Genau das hat seiner Meinung nach die Führung der Sowjetunion unter Gorbatschow gemacht und so das eigene Ende heraufbeschworen. Für Xi muss die Partei eine starke Selektion dessen vornehmen, was erinnerungswürdig ist. Er glaubt, dass das Volk weitgehend in Unwissenheit gehalten werden muss, und es der Weisheit der Parteiführung obliegt, die Rahmenbedingungen zu setzen, innerhalb derer gedacht und gesprochen werden kann.

Lange Zeit galt in China als wichtigste Lehre aus der Mao-Herrschaft, dass nie wieder eine einzige Person grenzenlose Macht haben soll. Auch der Personenkult, den Mao betrieben hat, wurde abgelehnt. Unter Xi ist beides wieder zurück – der Personenkult und die Alleinherrschaft.

Es stimmt, unter Maos Nachfolger Deng Xiaoping wurden diese Dinge klar angeprangert. Nicht zuletzt, weil Deng selbst ein Opfer der von Mao losgetretenen Kulturrevolution war. Dennoch ist es nicht so, dass der Personenkult komplett verschwunden gewesen wäre. Den gab es unterschwellig weiterhin, von Deng, dem „großen Architekten“, bis hinunter zum Kader auf lokaler Ebene. Von daher war es für Xi relativ leicht, das zu reaktivieren. Dahinter steckt seine Überzeugung, dass nur ein einzelner starker Führer die Partei zusammenhalten kann, weil sich ansonsten zu viele Einzelinteressen gegenüberstehen, erst die Partei und dann das Land zersplittert und die Korruption überhandnimmt. Eine der Lehren aus der Geschichte, die Xi gezogen hat, lautet offenbar, dass ein kontrollierter Personenkult weniger schädlich ist als die Korruption, die bis zu seinem Amtsantritt völlig außer Kontrolle war.

„Für Xi Jinping gibt es nur noch eine gesamtchinesische Identität“

Aber auch Xi Jinping hat unter Mao gelitten. Als Jugendlicher wurde er aufs Land verschickt und musste in einer Höhle wohnen, sein Vater, ein hochrangiger Kommunist, fiel in Ungnade …

… und seine Halbschwester beging während der Kulturrevolution wohl Selbstmord. Wir wissen natürlich nicht, wie Xi tief in seinem Innersten über die Zeit denkt. Die Geschichte, die er öffentlich erzählt, ist jedenfalls die von einer Zeit der Turbulenzen, die aber auch politisches Talent hervorgebracht hat. Er selbst hat demnach auf dem Land, wohin man ihn geschickt hat, sein politisches Talent entdeckt und ist zur Führungspersönlichkeit herangewachsen. Generell versucht Xi aber, eine Diskussion über die Kulturrevolution gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Ethnische Minderheiten wie die Tibeter oder die Uiguren in Xinjiang haben einen ganz eigenen Blick auf die Gründung der Volksrepublik China. Für sie begann vor 75 Jahren die Zerstörung der eigenen Kultur.

Die Kommunistische Partei sorgt seit spätestens 2008 dafür, dass sich keine unabhängigen Stimmen aus diesen beiden Regionen in irgendeiner Form artikulieren können. Das ist nicht nur Entmündigung: Es ist eine gewaltsame Unterdrückung alternativer Formen von Erinnerung und Identität. Für Xi Jinping gibt es nur noch eine gesamtchinesische Identität, die Wahrnehmungen der unterschiedlichen Ethnien finden dort keinen Platz. Alle sollen dankbar sein für die Errungenschaften der Partei. Dass viele Menschen in Tibet oder Xinjiang keine Dankbarkeit empfinden, wenn sie an die Kommunistische Partei denken, ist angesichts der langjährigen Unterdrückung mehr als verständlich.

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