„Es ist eine Niederlage“: Russischer Politiker kritisiert Desaster der Schwarzmeer-Flotte
„Krawallmacher“ aus der eigenen Partei attackiert Russlands Diktator. Womöglich fällt Putin jetzt das Desaster seiner Schwarzmeer-Flotte auf die Füße.
Moskau – „Die russische Marine ist fast zur Lachnummer geworden“, kommentiert Tom Sharpe. 25 Prozent der russischen Schwarzmeer-Flotte seien im Ukraine-Krieg untergegangen, stellt der Autor des Telegraph klar – aus dem sicheren Vereinigten Königreich heraus. Noch schärfere Kritik klingt jetzt auch aus Russlands politischer Elite durch – sogar aus Wladimir Putins nächstem Umfeld.
„Das ist die Tatsache der Niederlage. Es ist eine Niederlage. Sie muss akzeptiert werden“, sagt Jewgeni Fjodorow von der Regierungspartei „Einiges Russland“ mit Sitz im russischen Parlament, wie aktuell Newsweek berichtet – aufgrund eines Videos auf X vom ehemaligen Berater des ukrainischen Innenministers, Anton Heraschtschenko. Möglicherweise bläst dem russischen Diktator jetzt sogar aus der russischen Duma heraus Gegenwind ins Gesicht.
Die Schwarzmeer-Flotte hatte bisher die Herrschaft beansprucht über das Schwarze Meer mit seiner Größe von fast einer halben Million Quadratkilometern. Das Schwarze Meer allerdings ist wohl der einzige militärische Hotspot, auf dem die Ukraine uneingeschränkt die Initiative behält – wegen der westlichen Marschflugkörper, aber vor allem auch aufgrund ihrer Sea-Baby-Drohnen, die die Schwarzmeer-Flotte bereits mehrfach empfindlich getroffen haben. Die Drohnen seien inzwischen aufgerüstet worden, um mehr als eine Tonne Sprengstoff über eine Entfernung von mehr als 1.000 Kilometern zu transportieren, erklärte kürzlich, laut dem Business Insider, Artem Dehtiarenko, der Sprecher des ukrainischen Geheimdienstes (SBU).
Putins Dilemma: Russland ist unfähig, die eigenen Gewässer zu kontrollieren
Russland verfolgt im Schwarzen Meer seit Jahrhunderten sein Interesse an einem eisfreien und möglichst ganzjährig warmen Zugang zu den vitalen Seeverbindungswegen um Europa herum. Ein solcher Zugang soll Russlands Anspruch als Seemacht untermauern, schreibt Fregattenkapitän Göran Swistek für den Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik. Laut dem deutschen Autor und Kapitän zur See, Axel Stephenson, bräuchte die russische Marine im Schwarzen Meer tatsächlich allerdings das Doppelte an Material, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Jetzt aber dampft sie ihrem eigenen Anspruch hinterher.
„Wo ist die Flotte? Sie ist weg. Das ist wirklich ein Sieg des Feindes. Das ist eine Tatsache. Die Tatsache des Sieges des Feindes. Und die Tatsache, dass die Schiffe noch irgendwo da sind, irgendwo in Sewastopol oder Noworossijsk, nun, vielleicht sind sie das. Aber sie existieren nicht als strategische Kampfeinheit. Das heißt, sie kontrollieren nicht das Schwarze Meer.“
Fakt ist, dass Russland unfähig sei, die eigenen Gewässer zu kontrollieren, ätzt der britische Autor Sharpe. Neu ist aber, dass auch ein als ausgesprochener Hardliner titulierter russischer Abgeordneter plötzlich Kritik am russischen Machthaber äußert. Bereits im Juni, nach der völkerrechtswidrigen Invasion der Ukraine, hatte sich Jewgeni Fjodorow mit – selbst zu der Zeit – radikalen Thesen hervorgetan. Fjodorow hatte laut dem Spiegel kurz nach Kriegsausbruch in der Duma erklärt, der Austritt Litauens aus der Sowjetunion 1990 sei illegal erfolgt; im Gegenzug verlange er den Ausschluss Litauens aus der Nato.
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Vom Spiegel hatte er sich dafür als weltfremd abkanzeln lassen müssen: „Zu normalen Zeiten hätte man der neuesten wahnsinnigen Idee des russischen Krawallmachers Jewgeni Fjodorow wohl kaum Beachtung geschenkt. Der aus St. Petersburg stammende Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Russland ist für seine ultranationalistischen Positionen und wilde Verschwörungstheorien bekannt. Er hält das heutige Russland für eine Kolonie der USA und wittert schädlichen westlichen Einfluss überall, sogar bei den kremltreuen Staatsmedien.“
Putins Feind im eigenen Haus: Jewgeni Fjodorow ist auf Konfrontation aus
Jetzt scheint Fjodorow auch mit seinem Präsidenten einen Strauß auszufechten zu haben; Newsweek sieht in seiner Brandrede ein „seltenes Eingeständnis der militärischen Misserfolge Russlands“ – Fjodorow beklagte sich, die Ukraine habe einen so großen Teil von Putins wertvoller Schwarzmeer-Flotte außer Gefecht gesetzt, dass sie im Wesentlichen „verschwunden“ sei, wie ihn Newsweek zitiert. Tatsächlich ist sie auch offiziell scheinbar perdu – am Sonntag, 28. Juli, hat Russland in St. Petersburg den „Tag der Marine“ gefeiert – mit einer Parade im Angesicht von Wladimir Putin; und fast ohne die Schwarzmeer-Flotte.
Lediglich die – wohl in Syrien stationierte – Korvette „Merkury“ und die Fregatte „Admiral Grigorowitsch“ sollen in St. Petersburg eingelaufen sein. „Gleichzeitig wurde keines der Schiffe vorgeführt, die nach Angaben der ukrainischen Seite im vergangenen Jahr im Schwarzen Meer beschädigt oder zerstört wurden, einschließlich angeschlossener Streitkräfte anderer Flotten.“, wie der russische Dienst der britischen BBC schreibt.
Analyst über Putin: Eskalationsängste des Westens sind lächerlich
Überhaupt hatte die Sicherheitslage Putin wohl gezwungen, die Parade zu verkleinern: Die Hauptparade in Kronstadt sei abgesagt worden, während St. Petersburg den Ausweichhafen darstellte, wie Newsweek schreibt. Zum ersten Mal habe auch am Schwarzen Meer und in Noworossijsk „aus Sicherheitsgründen“ keine Parade stattgefunden, berichtete Russlands staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti laut Angaben von Newsweek.
Russlands Rückzug von der Krim lasse insofern die Eskalationsängste des Westens lächerlich erscheinen, schreibt aktuell Peter Dickinson für den Thinktank Atlantic Council: „Der Abzug russischer Kriegsschiffe von der Krim ist der jüngste Hinweis darauf, dass die Ukraine allen Widrigkeiten zum Trotz den Seekrieg tatsächlich gewinnt“, behauptet der Chefredakteur des Business Ukraine Magazine. Ihm zufolge sei das eine klare Botschaft an den Westen: Mit jedem Schiff, das sich von der Krim entferne, verliere der russische Diktator seine Glaubwürdigkeit.
Ukraine stößt Putin vom Sockel: Jedes verlorene Schiff ist Futter für die Kritiker
Die Verteidiger aus der Ukraine wollen mit ihren Attacken gegen die russische Marine nicht nur Material zerstören und die Operationsfähigkeit der Schwarzmeer-Flotte schwächen, sondern das System von Russlands Präsident Wladimir Putin stürzen. Möglicherweise haben sie in Fjedorow ihren ersten Sympathisanten gefunden. „Wo ist die Flotte? Sie ist weg. Das ist wirklich ein Sieg des Feindes. Das ist eine Tatsache. Die Tatsache des Sieges des Feindes. Und die Tatsache, dass die Schiffe noch irgendwo da sind, irgendwo in Sewastopol oder Noworossijsk, nun, vielleicht sind sie das. Aber sie existieren nicht als strategische Kampfeinheit. Das heißt, sie kontrollieren nicht das Schwarze Meer“, ereiferte sich Fjodorow laut Newsweek.
Wenn Cherson für Putin eine Blamage gewesen sei, wäre das Desaster seiner Schwarzmeer-Flotte „eine sehr persönliche Demütigung“ gewesen, schreibt Peter Dickinson. Der Analyst des Thinktanks Atlantic Council hat noch Anfang Juni sehr vieldeutig behauptet, Wladimir Putin habe stillschweigend zugegeben, dass die Krim nicht wirklich Teil Russlands sei. Allerdings schließt er das lediglich aus dem relativ unauffälligen Abzug der russischen Flotte von der Krim. Dickinson hält die Gebietsansprüche Russlands in der Ukraine insofern für „alles andere als in Stein gemeißelt“, sondern weitgehend opportunistisch definiert – jeweils individuell an die Lage auf dem Schlachtfeld angepasst.
Russland scheint zu bluffen: Zukunft der annektierten ukrainischen Gebiete „nicht in Stein gemeißelt“
Der Analyst beobachtet einen deutlichen Gegensatz in Russlands Rhetorik und dessen tatsächlichem Handeln. Putin und weitere Offizielle forderten die Ukraine immer wieder auf, die „neuen territorialen Realitäten“ zu akzeptieren; allerdings zeige der Rückzug der Schwarzmeer-Flotte, dass die ausbleibende Akzeptanz der Besatzungen auch keine Folgen zeitigt – offensichtlich ist sogar das Gegenteil der Fall – Dicksinson: „Russlands Handlungen senden ein unmissverständliches Signal aus, dass die Zukunft der ‚annektierten‘ ukrainischen Regionen noch immer zur Debatte steht“. Auch die Drohung mit einer nuklearen Apokalypse hält er angesichts verschiedener Rückzüge für „maßlos übertrieben“.
Gleiches hatte auch der Spiegel dem Verhalten Fjodorow vor zwei Jahren unausgesprochen unterstellt: „Leute wie Fjodorow empfinden den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht als Sturz eines ineffizienten, unterdrückerischen Regimes, sondern vor allem als Verlust imperialer Größe“, wie Ann-Dorit Boy schrieb. Die Spiegel-Autorin beschreibt ihn als Gründer der „Nationalen Befreiungsbewegung – eine gegen kremlkritische Oppositionsproteste gegründete politische Bewegung“, die neoimperialistisch orientiert sei und dem Präsidenten Wladimir Putin huldige.
Fjodorow keilt aber beileibe nicht zum ersten Mal gegen seine eigenen Leute aus. 2015 soll er, laut dem Spiegel, die russische Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert haben, die Rechtmäßigkeit der Gründung des Staatsrates der Sowjetunion durch Michail Gorbatschow zu prüfen – aufgrund des Verdachts von Landesverrat. Reine Spiegelfechterei, wie Ann-Dorit Boy angedeutet hatte: Sein damaliger „Vorstoß hat vor allem symbolische Bedeutung, soll er doch wohl Phantomschmerzen des Putin-Lagers lindern“.