Odyssee einer Flakhelferin: Wie für eine Ostwestfälin im Schongauer Land der Krieg zu Ende ging
Ida Obernolte erlebte die letzten Kriegsjahre als junge Flakhelferin. Ihre Erinnerungen – unter anderem im Schongauer Land – hat sie schriftlich festgehalten.
Kriege führen zu Völkerwanderungen, Flucht und Entwurzelung. Sie verändern Biografien. Das erleben wir wieder durch Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das erlebten unsere Vorfahren nach 1945 mit den Flüchtlingen und Vertriebenen, die aus dem Sudetenland oder Schlesien in den Landkreis kamen. Und wie viele Menschen lernten bereits während des Krieges den Pfaffenwinkel als Evakuierte oder als Soldaten kennen? Was wäre insbesondere aus dem Oberleutnant Franz Josef Strauß aus München geworden, wenn er nicht in der Altenstädter Kaserne gelandet und wegen seiner Englischkenntnisse über die amerikanische Besatzungsmacht in der Lokalpolitik seine große Karriere begonnen hätte?
Im Januar 1945 in die Flakkaserne
Es gibt aber auch kleine Geschichten wie die der damals 19-jährigen Flakhelferin Ida Obernolte aus Exter in Ostwestfalen. Sie hat ihre Erlebnisse aufgeschrieben. Die mit der Regionalgeschichte von Vlotho und Umgebung beschäftigte Geschichtswerkstatt Exter veröffentlichte 2018 unter dem Titel „Idas Odyssee – Ein junges Mädchen als Flakhelferin in den letzten Kriegstagen“ ihre Erinnerungen im Internet und gab dem Autor dieser Zeilen freundlicherweise die Freigabe zur Verwendung.
Exter gehört zur Stadt Vlotho an der Weser im Kreis Herford und liegt etwa 600 Kilometer entfernt an der A 2. Eine der höchsten Punkte dort ist die 255 Meter hohe Steinegge, in deren Nähe Ida Obernolte aufwuchs. Gleich vorweg: ihre Geschichte ist mit Schongau, der Kaserne in Altenstadt und Strauß verbunden und hat ein Happy End.
Gegen Kriegsende mobilisierte das Nazi-Regime alles und alle für seinen totalen Krieg. So leisteten etwa 500 000 Wehrmachtshelferinnen einen wichtigen Beitrag zur Kriegsführung. Die Schongauer Nachrichten beschrieben am 18. Januar 1945 unter dem Motto „Die Bastion der Frauen“, dass es darum ginge, Männer für soldatische Aufgaben freizumachen. Es gab nicht nur eine Flakhelfergeneration, sondern auch eine Helferinnengeneration.
Diese Massenmobilisierung riss Ida Obernolte aus ihrer ostwestfälischen Heimat. Der zuständige Ortsbauernführer bestimmte sie und zwei andere junge Frauen zum Einsatz als Wehrmachtshelferin. Ida Obernoltes Odyssee beginnt am 10. Januar 1945, als sie in die Flakkaserne in Dortmund einrücken musste. Auch in Schongau hieß es in diesen Tagen „Antreten“! Am 11. Januar 1945 war um 19 Uhr Volkssturmappell im Ballenhaus. Das Schongauer HJ-Fähnlein musste am selben Tag mit Ski zum Appell am HJ-Heim erscheinen wie auch die Ausbildungsschar in Peiting.
Für Ida Obernolte ging es von Dortmund nach kurzem Heimaturlaub per Zug und zu Fuß durch das winterliche und schrumpfende Großdeutschland nach Osten. Am 14. Januar 1945 kamen sie und ihre Begleiterinnen in Gleiwitz (heute Gliwice) an. Von dort ging es über Hindenburg (Zabrze), Friedenshütte (Ruda Slaska) und Cosel (Kozle) weiter nach Nimmersath (Bolkow) im Riesengebirge. Dort hauste Ida Obernolte mit 70 jungen Frauen im Speisesaal einer Jugendherberge.
Wahrscheinlich sahen die Verantwortlichen rasch ein, dass diese Gegend wenige Tage nach Beginn der russischen Winteroffensive und der rasch näher rückenden Front kein guter Ort für die Ausbildung junger Frauen war, denn am 30. Januar schickte man sie wieder zurück nach Dortmund. Die Schongauer Nachrichten verkündeten am 29. Januar den „bolschewistischen Ansturm auf Oberschlesien“ und auch auf Gleiwitz und in diesen Tagen eine Führerverordnung zum Schutz der Volksopfersammlung. Bei Missbrauch von Spenden drohte die Todesstrafe.
Für Ida Obernolte ging es nach einem erneuten kurzen Heimaturlaub am 12. Februar 1945 weiter nach Süddeutschland zur Ausbildung. Ida und ihre beiden Schicksalsgenossinnen aus Exter, Wanda Kahre und Grete Kiso, versuchten zuvor, in der Flakstellung unterzukommen, die die Wehrmacht in ihrer Heimat auf der Steinegge aufbaute. Ohne Ausbildung ging aber nichts.
Sechs Wochen lang in Altenstadt
Die Fahrt nach München dauerte zwei Tage. Ida Obernolte blieb dort eine Woche. Eintrag in ihren Aufzeichnungen: „Die Stadt ist schon sehr stark von den Fliegerbombenangriffen beschädigt.“ Von München schickte man Idas Gruppe über Regensburg und Würzburg nach Fürth. Von dort mussten sie in der Nacht nach Zirndorf laufen. Am 1. März 1945 kam der Marschbefehl nach Schongau, das sie über Augsburg immerhin schon am nächsten Tag erreichten. Auf dem Burglachberg, wo heute das Stabsgebäude der Luftlande-/Lufttransportschule steht, wurde 1937 die Flakschule IV erbaut. Dort bildete man der Soldaten der Wehrmacht an Entfernungsmess- und Horchgeräten sowie an Scheinwerfern aus, und dort rückten die Frauen ein.

Die Verlegung nach Schongau war eine Enttäuschung für die jungen Frauen aus Exter, weil sie gehofft hatten, ihrer Heimat ein Stück näherzukommen. Der Bericht des Externer Heimatvereins sagt, dass sie in der Luftwaffenausbildungskaserne Schongau (Altenstadt) drei Monate bleiben sollten. Ida Obernolte teilte sich eine Stube mit einem Dutzend anderer Kameradinnen. Der Tag war laut ihren Aufzeichnungen eindeutig keine Wellness-Veranstaltung: „Dort ist morgens 6 Uhr Wecken, dann sind wir noch oft sooo müde, wenn die Pfeife von der HVD (Helferin vom Dienst) auf dem Flur ertönt.“ Da war der anschließende Einsatz der Kaffeeholerin eine wichtige Tätigkeit.
Der Dienst begann um halb acht mit dem Kommando „2. Zug stillgestanden! Rechts um! Im Gleichschritt marsch!‘ und mit einem „lustigen Lied“ beim Marsch zum Unterrichtsstand in der Mess-Halle. Den Tag verbrachten sie weitgehend im Unterrichtssaal oder am Messstand oder beim so genannten „Ordnungsdienst“ mit Marschieren. Die angehenden Flakheferinnen mussten auch Flugzeugtypen lernen. Was aus Quartett-Kartenspielen spielerisch bekannt ist, war damals tödlicher Ernst.
So vergingen sechs Wochen und Anfang April das für Ida Obernolte erste Osterfest fern ihrer Familie. Die Frontnachrichten ließen zum Schuljahresbeginn am 3. April 1945 nunmehr mit ihren Ortsangaben wie „Erbitterte Abwehrkämpfe zwischen Tauber und Main“ deutlich das Näherrücken der Alliierten erkennen. Die Bergwerke Peiting und Peißenberg gaben keine Kohle mehr an Haushalte ab. Diese mussten sich nunmehr an ihre Kohlenhändler wenden.
Ida Obernolte schrieb in ihren Erinnerungen, dass sie von ihrer Familie keine Post erhalten hatte. Das war kein Wunder, denn für ihre Angehörigen war der Krieg bereits vorbei. Am 3. April 1945 kamen die Amerikaner. Die Flaksoldaten auf der Steinegge, bei denen sich Ida Obernolte um heimatnahe Verwendung bemüht hatte, bezahlten ihren Widerstand mit vier Toten. Leider brannte wegen dieses aussichtslosen Widerstands der Flakstellung auch ihr Elternhaus nieder.
Kartoffelschälen statt Flugmesskunde
600 Kilometer und eine Front entfernt wusste Ida Obernolte davon nichts. Was sie wusste, war das nahe Kriegsende in ihrer südbayerischen Zwangsverwendung. Sie beschreibt einen Appell in der Altenstädter Kaserne am Abend des 16. April 1945. Ein Oberleutnant verkündete die Auflösung der Schule. Wer noch nach Hause könne, könne dies jetzt tun. Ida Obernolte und ihre Kameradinnen mussten also bleiben, weil ihr Zuhause schon zwei Wochen und hunderte Kilometer hinter der Front lag. Sie brachten die glücklichere Hälfte der Frauenstube in der Nacht zum 18. April 1945 zum Schongauer Bahnhof.
Die Verbliebenen kamen zunächst nach Hohenfurch. Der Dienst schrumpfte wie der Machtbereich der Nazis auf Kartoffelschälen statt Flugmesskunde. Zur Belohnung gab es Grießbrei, den die Frauentruppe in Zeiten täglichen und nächtlichen Alarms mit Flucht in den Keller als Köstlichkeit begrüßte. Am 25. April 1945 war dann auch Schluss mit Uniform und Kaserne. Die jungen Frauen mussten sich bei Bauern einquartieren und mithelfen. Die Schongauer NSDAP-Ortsgruppe veranstaltete am 19. April 1945 im geschmückten Rathaussaal einen Treueabend zu Hitlers Geburtstag. Der letzte Schmuck für den braunen Spuk.
Ida Obernolte und ihre Leidensgenossinnen landeten in Kinsau auf einem Bauernhof. Dort erlebten sie am 27. April 1945 die Ankunft der ersten amerikanischen Panzer, nachdem sie morgens ihre Entlassungspapiere erhalten und tags zuvor Tieffliegerangriffe überstanden hatten. Sie und ihre beiden Kameradinnen machten sich am 30. Mai 1945 auf dem Weg in die neue Weltordnung in ihrer alten Heimat. Sie stellten beim Bürgermeister einen Antrag und bekamen von der US-Militärregierung daraufhin einen Pass bis Augsburg. Nach einem herzlichen Abschied von ihrer Kinsauer Gastfamilie ging es zu Fuß los. Züge fuhren drei Wochen nach Kriegsende noch nicht.
Ihr Gepäck beförderte die Frauengruppe in Kinderwägen, die sie von Kinsauern erhalten hatten. Am ersten Tag liefen sie 45 Kilometer bis Königsbrunn und übernachteten dort im Stroh. Bei strömenden Regen kamen sie am nächsten Mittag in Augsburg an. Über Kinsauer Kontakte konnten sie dort im Trockenen übernachten. Am 1. Juni 1945 fuhren sie nach Abstempeln ihrer Passierscheine bei der US-Kommandantur mit einem Lkw Richtung Württemberg. Der Tagebucheintrag vom 2. Juni 1945 beschreibt die Ankunft in Aalen. Auch hier erhielten sie eine freundliche Übernachtungsmöglichkeit.
In guter Erinnerung behalten
Dort blieb Ida Obernolte einige Tage, bevor es Richtung Heimat weiterging. Sie schrieb am 7. Juni 1945, dass sie in acht Tagen bestimmt bei ihren Angehörigen am Tisch sitzen könne. Folglich dürfte die Heimreise von Kinsau nach Exter etwa zwei Wochen gedauert haben. Dort erwartete sie neben der Trauer um gefallene Brüder der Wiederaufbau des zerstörten Elternhauses, bei dem auch Materialien aus der Flakstellung auf der Steinegge eine sinnvolle Verwendung fanden.
In Schongau hatten sich derweil die Amerikaner besatzungshäuslich eingerichtet. Sie bestimmten den ehemaligen Oberleutnant Franz Josef Strauß aus der Flakschule in Altenstadt wegen seiner Englischkenntnisse zum Stellvertreter des Landrats. Ob er auch der Oberleutnant ist, der Ida Obernolte und ihre Genossinnen aus der Altenstädter Kaserne verabschiedete, überlasst der Autor dieser Zeilen dem Kopfkino der Leserschaft. Strauß war mit der Ausstellung von Entlassungspapieren zielstrebig und freigiebig und ist damit nicht nur im Bericht des Geschichtsvereins in Exter genannt. Auch in sein Intimfeindblatt „Spiegel“ schrieb 1957 über eine „Schongauer Lösung“.
Ida Obernolte heiratete 1950, hatte zwei Töchter und baute in der Nähe ihres Elternhauses ein eigenes Haus. Die drei letztlich glücklich verhinderten Wehrmachtshelferinnen blieben miteinander in Kontakt. Das Schongauer Land behielt Ida Obernolte anscheinend in guter Erinnerung, denn der Bericht des Geschichtsvereins beinhaltet Fotos von Schongau und Kinsau aus ihrem Nachlass. Auch den Bauernhof in Kinsau besuchte Ida Kamphuis, wie sie nach der Heirat hieß, nach vielen Jahren noch einmal in Begleitung von Tochter, Schwiegersohn und Enkelin. Sie dankte der inzwischen ebenfalls betagten Bäuerin für die Hilfe in den denkwürdigen Tagen im Frühjahr 1945. Ida Kamphuis starb am 2. Januar 2015 im Alter von fast 90 Jahren.
Von Rainer Schmid