Sozialbeiträge könnten viel niedriger sein: Was die Merz-Regierung dafür tun muss

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Immer höhere Sozialabgaben belasten Bürger und Wirtschaft – dabei könnte eine einfache Umverteilung aus Steuermitteln Milliarden sparen, meinen Experten.

Berlin – Die deutsche Wirtschaft durchlebt weiterhin eine Schwächephase. Die Gründe sind vielfältig – immer wieder führen Experten der Arbeitgeberseite auch die hohen Sozialabgaben ins Feld. Dabei müsste das nicht sein. Beitragszahler stemmen Leistungen, die eigentlich der Staat tragen müsste, so die Kritik.

Weniger Netto vom Brutto: Soziallast in Deutschland erreicht historische Höchstwerte

Die Sozialabgaben in Deutschland liegen auf einem Rekordniveau: Fast 42 Prozent des Bruttolohns fließen in Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die „Schmerzgrenze“ für Arbeitgeber war laut Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger bereits überschritten, „als die Sozialabgaben über 40 Prozent gestiegen sind“, wie er kürzlich im Gespräch mit Handelsblatt sagte. Derzeit würden die Beiträge auf 45 Prozent zusteuern. Wenn netto am Ende nicht viel mehr übrig bleibe als mit Bürgergeld, fragten sich manche, ob sie überhaupt noch arbeiten gehen sollten, so Dulger weiter.

Eine Kabinettssitzung der Bundesregierung im Bundeskanzleramt am 16. Juli 2025.
Die Bundesregierung um Bundeskanzler Friedrich Merz (rechts) und Finanzminister Lars Klingbeil (Mitte) plant Anpassungen am Sozialstaat. © Christian Spicker/Imago

Im Mai 2025 kam ein Papier des Wirtschaftsweisen Martin Werding für das wissenschaftliche Institut der PKV zu der Schlussfolgerung, dass die Sozialabgaben in Deutschland „bis 2035 auf 47,5 Prozent, bis 2050 weiter auf 52,9 Prozent und bis 2080 auf nicht weniger als 58,4 Prozent erhöht werden.“ Friedrich Merz (CDU) hatte in seinem Zwölf-Punkte-Plan vergangenes Jahr eine Begrenzung der Sozialabgaben auf 40 Prozent des Bruttolohns versprochen. Wie genau er das bewerkstelligen will, stand in dem Reformplan nicht.

Wie lässt sich Wunschmarke von 40 Prozent Sozialabgaben erreichen?

Der Chef der Techniker Krankenkasse Jens Baas brachte unlängst eine Möglichkeit ins Spiel: „Unsere Versicherten und ihre Arbeitgeber“ müssen „jedes Jahr alleine schon 10 Milliarden Euro für die Versicherung von Bürgergeld-Empfängern aufbringen.“ Diese Aufgabe gehöre aus seiner Sicht „unzweifelhaft [...] von Steuern finanziert.“ Damit ließe sich ein Anstieg des Beitragssatzes aus seiner Sicht fast komplett vermeiden. Derzeit warnt Bass vor einem Anstieg auf 18,3 Prozent bis 2027. Das Problem: Auch die Wirtschaft wird stark durch hohe Lohnnebenkosten belastet.

Würde die Leistung von der Solidargemeinschaft aller Bürger, also aus Steuermitteln, finanziert, entspräche das dem Solidargedanken, werfen Unterstützer dieser Idee ein. „Dieses permanente Schröpfen der Versichertengemeinschaft muss endlich aufhören, und der Staat muss seinen Pflichten nachkommen“, sagte die Vorständin des BKK Dachverbands, Anne-Kathrin Klemm. Andere finden, das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherungen beruhe genau darauf, dass die Stärkeren für die Schwächeren einstehen. dass also Versicherungsbeiträge auch für sogenannte versicherungsfremde Leistungen aufkommen. Dazu zählen etwa die Krankenversicherung von Bürgergeld-Empfängern oder die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern.

Rentensystem vor dem Kollaps: Immer weniger zahlen für immer mehr

Auch das Rentensystem in Deutschland ist in Schieflage. Wegen der alternden Bevölkerung gerät das Umlageprinzip an seine Grenzen: Immer mehr Rentenbezieher kommen auf immer weniger Beitragszahler. In der Rentenkasse klafft außerdem ein großes Loch von etwa 40 Milliarden Euro. Das bedeutet, die Kasse zahlt für Dinge, für die bislang nie jemand Geld eingezahlt hat. Die Forderung auch hier: Die Differenz sollte mit Steuergeld beglichen werden.

Der Beitragssatz für die Rentenversicherung könnte um zwei Prozentpunkte auf 16,6 Prozent gesenkt werden, wenn der Bund alle versicherungsfremden Leistungen übernähme. Das bestätigte Imke Brüggemann-Borck, Leiterin des Dezernats Finanzierung und Verteilung der Deutschen Rentenversicherung laut Wirtschaftswoche (WiWo). Das wäre das niedrigste Niveau seit über 30 Jahren – und würde allen, die arbeiten, viel Geld sparen. Schwarz-rot plant indes, die Mütterrente auszuweiten und das Rentenniveau auf 48 Prozent festzulegen. Das seien „teure Versprechungen“, kritisiert etwa der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher.

„Wenn man sich entschließt, die Mütterrente durch Rentenbeiträge gegenzufinanzieren, [...] würden wir schon im Jahr 2027 bei einem Beitragssatz von mehr als 19 Prozent landen“, kommentierte Gundula Roßbach, Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung im Interview mit dem Tagesspiegel. Der Gegenvorschlag des DIW: Eine Sonderabgabe auf Alterseinkünfte: „Ein ‚Boomer-Soli‘ - eine Solidaritäts-Sonderabgabe auf sämtliche Alterseinkünfte - kann ein wichtiger Baustein zur Stabilisierung des Rentensystems in Deutschland sein“, heißt es im aktuellen DIW-Wochenbericht.

Pflege am Limit: Warum die Pflegekasse laut Kritikern Milliarden für staatliche Aufgaben zahlt

Vor Problemen steht auch die soziale Pflegeversicherung. Sie zahlt ebenfalls für Dinge, für die sie nicht zuständig ist, meinen Kritiker. Dazu zählen etwa Rentenbeiträge für Menschen, die zu Hause ihre Verwandten pflegen und deshalb weniger arbeiten. Dabei flossen im vergangenen Jahr 3,7 Milliarden Euro, wie WiWo berichtete. Es sei Sache des Staates, versicherungsfremde Leistungen in der Pflege aus Steuermitteln zu finanzieren, heißt es dazu etwa von der Diakonie Deutschland. „Es ist höchste Zeit, dass die Politik von der Problemanalyse zum Handeln kommt“, meint Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der Diakonie.

Weil viele Bundesländer ihre Finanzierungsaufgaben nicht ausreichend übernehmen, müssen Pflegebedürftige im Heim immer mehr selbst zahlen. Die sogenannten „Investitionskosten“ werden direkt auf sie abgewälzt. Inzwischen liegt der Eigenanteil im Schnitt bei 3000 Euro pro Monat – das zwingt mehr als ein Drittel der Bewohner dazu, zusätzlich Sozialhilfe zu beantragen. Laut Berechnungen des Arbeitgeberverbandes könnten die Kosten im Schnitt um 498 Euro pro Monat sinken, wenn die Länder ihrer gesetzlichen Pflicht nachkämen.

Kanzler Merz kündigte unlängst grundlegende Reformen des Sozialversicherungssystems an. Konkrete Pläne für die Entlastung der Sozialkassen sind noch nicht bekannt. Oder wie es Arbeitgeberpräsident Dulger formuliert: „Zu Reformen in der Sozialpolitik steht allerdings im Koalitionsvertrag wenig bis gar nichts drin.“

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