Wegen Bürgergeld: Milliarden-Loch bei Krankenkassen könnte noch größer sein
Bürgergeldempfänger zahlen nichts für ihre Krankenversicherung. Die Kassen klagen über fehlende Einnahmen. Wie groß sie sind, rechnet ein Experte vor.
Milliardendefizit, schrumpfende Rücklagen, erhöhte Kosten: Um die gesetzliche Krankenversicherung steht es schlecht. Darüber, wie das finanzielle Loch gestopft werden kann, gibt es unterschiedliche Vorschläge. Die Kassen selbst drängen derzeit vor allem auf Veränderungen beim Bürgergeld.
„Reicht bei Weitem nicht aus“: Krankenkassen fordern neue Pauschale beim Bürgergeld
Konkret fordern die Krankenkassen Anpassungen bei den sogenannten versicherungsfremden Leistungen. „Da reden wir momentan hauptsächlich über kostendeckende Beiträge für Bürgergeldempfänger“, erklärt dazu Michaela Gottfried, Sprecherin des Verbands der Ersatzkassen (vdek). Der Verband vertritt die größten Krankenkassen Deutschlands und ist überzeugt: Beim Bürgergeld muss der Staat mehr Kosten übernehmen.
Bisher ist es so: Wer Bürgergeld bezieht, muss nichts für seine Krankenversicherung zahlen. „Für die Gesundheitsversorgung von Bürgergeldempfängern überweist das Jobcenter der gesetzlichen Krankenversicherung eine Pauschale“, so Gottfried im Interview mit dem Münchner Merkur. „Aber diese reicht bei Weitem nicht aus.“
Diese Pauschale beträgt aktuell 133,17 Euro pro Monat und Bürgergeldempfänger. Das Problem laut vdek: „Die Beträge für Bürgergeldempfänger müssten viel höher sein, um die Kosten zu decken. Es fehlen rund zehn Milliarden Euro jährlich.“
Bürgergeld-Gutachten: Krankenkassen-Finanzloch „könnte tendenziell zugenommen haben“
Die Zahlen beziehen sich vor allem auf ein Gutachten des Forschungsinstituts IGES. Diesem zufolge sind die Ausgaben für Bürgergeldempfänger „deutlich höher als die Einnahmen aus den Krankenversicherungsbeiträgen“, also aus der Pauschale des Jobcenters. „Im Jahr 2022 betrug die Lücke 9,2 Milliarden Euro.“ Sie ergibt sich aus Leistungsausgaben und Verwaltungskosten.
Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor, das macht eine belastbare Prognose für das laufende Jahr schwierig. Aber, so Projektleiter Richard Ochmann auf Anfrage des Münchner Merkur: „Entwicklungen in den darüber hinaus vorliegenden Daten deuten darauf hin, dass die Unterdeckung im Gesamtbetrag tendenziell zugenommen haben könnte.“
Ochmann rechnet vor: „Die Beitragspauschale ist zwischen den Jahren 2022 und 2024 um insgesamt 10 Prozent angehoben worden. Im gleichen Zeitraum sind die Leistungsausgaben je Versicherten bezogen auf den gesamten Versichertenbestand der GKV um insgesamt 13 Prozent, und damit etwas stärker als die Beitragspauschale, gestiegen.“ Die GKV-Ausgaben steigen also stärker als die Bürgergeldpauschale.
Hinzu kommt: Derzeit gibt es rund vier Millionen erwerbsfähige Bürgergeldempfänger. 2022 waren es noch 3,7 Millionen – ein Anstieg um acht Prozent, der vor allem an der Verdopplung der Zahl ukrainischer Bürgergeldempfänger liegt. Ukrainische Bürgergeldempfänger sind zwar in der Regel jünger, weniger oft krank und damit „günstiger“ für die Krankenkasse als der durchschnittliche Bürgergeldempfänger.
Doch: „Grundsätzlich sind auch bei ukrainischen Bürgergeldempfängern im Durchschnitt die Gesundheitsausgaben höher als die Beitragszahlungen.“ Das Fazit des Experten: „Wahrscheinlich werden auch die hinzugekommenen Bürgergeldbezieher eine Unterdeckung aufweisen und somit den absoluten Gesamtbetrag der Unterdeckung (9,2 Milliarden Euro) tendenziell erhöhen.“
Die IGES-Berechnungen zeigen: Monatlich hätte die vom Staat bezahlte Beitragspauschale für 2022 bei 311,45 Euro liegen müssen, damit sich die Kosten für Bürgergeldempfänger rechnen. Tatsächlich lag sie 2022 aber bei 108,48 Euro. Die Differenz zwischen dem Pauschalbetrag des Jobcenters und den tatsächlichen Ausgaben müssen die gesetzlichen Krankenkassen finanzieren. Und das geschieht vor allem aus dem allgemeinen Beitragsaufkommen, also aus den Beiträgen aller anderen Versicherten.
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Wer zahlt das Krankenkassen-Defizit bei Bürgergeldempfängern?
Die Ersatzkassen fordern: „Die Gesundheitsversorgung der Bürgergeldempfänger ist eigentlich eine Aufgabe des Staates.“ Zumindest für die größte Fraktion im Bundestag spricht CDU-Politiker Stefan Nacke. Er ist Vorstand im CDA-Sozialflügel der Union sowie Arbeitnehmergruppenchef der Fraktion und sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: „Wir müssen klar darauf hinweisen: Bisher leistet der Staat seinen Beitrag nicht so, wie er sollte.“ Auch CDU-Gesundheitsministerin Nina Warken hat sich offen dafür gezeigt, die Pauschale anzupassen. „Darüber werden wir reden“, sagte sie Ende Mai.
Bleibt nur die Frage: Woher soll der Staat die fehlenden Milliarden nehmen? Eine Art Sondervermögen oder neue Schulden sind derzeit nicht im Gespräch. Nacke sagt: „Wenn der Staat eine Fürsorge für Menschen abseits von Beitragszahlungen schafft, dann muss er die Kosten aus Steuergeldern decken und nicht aus den beitragsfinanzierten Versicherungen heraus.“
Heißt im Klartext: Die fehlenden Kosten werden wohl so oder so von der Mehrheitsgesellschaft getragen – entweder von der Gruppe der gesetzlichen Krankenkassenbeitragszahler oder vom allgemeinen Steuerzahler. Die meisten Menschen im Land gehören beiden Gruppen an. Zusätzlich belastet würden aber die Privatversicherten. Sie zahlen bislang nichts für die Kosten der Bürgergeldempfänger – obwohl sie es sich vermutlich besser leisten könnten als die gesetzlich Versicherten.