"Ein Kampfverein des linken Flügels" - Radikal, unerbittlich, gut vernetzt: Das Problem der Grünen mit ihrer Jugend
Nur zwei Minuten hat Jakob Blasel auf der Bühne, doch die reichen ihm, um den Grünen-Parteitag aufzuwecken. „Unsere Wirtschaftspolitik muss nicht nur von Grünen verantwortet werden, sondern unsere Wirtschaftspolitik muss auch grün sein“, ruft der Vorsitzende der Grünen Jugend ins Mikrofon. Blasel spricht sich gegen die Investitionsprämie aus, die sein Parteifreund und Wirtschaftsminister Robert Habeck vorgeschlagen hat.
Die krisengebeutelte Wirtschaft will der Kanzlerkandidat der Grünen damit in Schwung bringen. Es dürfe kein staatliches Geld in fossile Infrastruktur fließen, findet Blasel. Er fordert „eine ganz klare Haltung“. Ein Teil der Halle in der Berliner Messe jubelt nach seiner Rede frenetisch, der andere schüttelt den Kopf. Am Ende verliert Blasel die Abstimmung, erhält aber auch viel Zustimmung. Ein Achtungserfolg.
Es ist einer der wenigen Momente, in denen auf dem Parteitag in Berlin, bei dem am Sonntag das Programm beschlossen wurde, etwas Stimmung aufkommt. Die Parteispitze will vier Wochen vor der Wahl keinen Streit und keine Grundsatzdebatten auf offener Bühne.
Viele Anträge, auch die der Grünen Jugend, wurden vorab übernommen: Möglichkeiten für einen Mietendeckel, eine klare Ablehnung der Wehrpflicht, keine Privilegien für Privatjets. Die Grüne Jugend hat wieder einiges erreicht.
Die Grüne Jugend ist ein Kampfverein des linken Flügels geworden. Ein Abgeordneter der Grünen über die Nachwuchsorganisation
Längst hat sich die unabhängige Jugendorganisation zum Machtfaktor in der Partei entwickelt. 17.000 Mitglieder zählt die Grüne Jugend, auf Parteitagen mobilisiert sie meist erfolgreich, hat durch ihre extremeren Positionen häufig Diskursmacht.
Aber auch bei der Postenvergabe spricht der Parteinachwuchs ein gewichtiges Wort mit. Drei der letzten vier Grünen-Chefs haben eine Vergangenheit bei der Grünen Jugend, 26 der 117 Bundestagsabgeordneten der Grünen wurden bei der letzten Wahl von der Organisation unterstützt. Auch bei dieser Wahl sind viele ihrer Kandidaten auf aussichtsreichen Listenplätzen.
Das gefällt bei Weitem nicht allen in der Partei. „Die Grüne Jugend ist ein Kampfverein des linken Flügels geworden“, sagt ein Abgeordneter. Er berichtet von innerparteilichem Mobbing, wenn man in gesellschaftspolitischen Fragen eine andere Meinung habe als die Grüne Jugend. Wer sich nicht mit den Jungen arrangiere, müsse um den sicheren Listenplatz bangen.
Mittelfristig könnte sich die Partei dadurch deutlich verändern. „Wir steuern auf ein großes Problem zu: Wir wollen Volkspartei sein, bekommen aus der Grünen Jugend aber Nachwuchspersonal, das meistens biodeutsch ist, aus gutem Haus stammt und für das identitätspolitische Fragen wichtig sind“, sagt der Abgeordnete, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will.
Fakt ist, dass die Partei in den vergangenen Jahren massiv gewachsen ist. Seit der Zeit, als Annalena Baerbock und Habeck Grünen-Vorsitzende waren, hat man sich mehr als verdoppelt. Fast 160.000 Mitglieder zählen die Grünen aktuell, darunter viele, die den bürgerlichen Kurs von Habeck mittragen.
Doch auf Funktionärsebene zeigt sich bei den Grünen ein anderes Bild. In der Bundestagsfraktion und in fast allen Landesverbänden hat der linke Parteiflügel inzwischen eine Mehrheit.
Die Grüne Jugend sitzt im Erdgeschoss
Vier Tage vor dem Parteitag. Die Grüne Jugend hat zur Pressekonferenz geladen. Mit der Mutterpartei teilt sich die Jugendorganisation die Räumlichkeiten. Die Parteijugend sitzt im Keller, den man über einen in die Jahre gekommenen Aufzug erreicht.
Ein paar alte Ikea-Möbel, Umzugskisten, Wahlplakate, vor dem Fenster stehen Mülltonnen. Die Büros der Grünen-Vorsitzenden mit Balkon, Aussicht und Designer-Möbeln sind drei Stockwerke entfernt. Doch dazwischen scheinen Welten zu liegen.
Auch inhaltlich trennt die Grünen und ihre Jugendorganisation mitunter mehr, als sie eint. Im Wahlprogramm wollte die Grüne Jugend eine Abschaffung der Schuldenbremse, die Partei will eine Reform. Die Grüne Jugend will einen Gasausstieg bis 2035, fordert einen Baustopp für LNG-Terminals, will Immobilienkonzerne mit mehr als 3000 Wohnungen vergesellschaften, die Parteispitze will all das nicht oder deutlich später.
Auch in der Migrationsdebatte sprechen beide unterschiedliche Sprachen. „Wir fordern ein Ende der rassistischen Grenzkontrollen und Abschiebestopps“, heißt es bei der Grünen Jugend. Kanzlerkandidat Robert Habeck forderte im Wahlkampf, dass Syrer ohne Arbeit zurück in ihre Heimat sollten.
Auf der Pressekonferenz der Grünen Jugend wollen Jette Nietzard und Jakob Blasel ihre Standpunkte stärken. Weil die Stehpulte, an denen die Grünen-Vorsitzenden sonst ihre Statements abgeben, bereits in die Messehalle für den Parteitag gebracht worden sind, haben die beiden Vorsitzenden kurzerhand ein rosa Bettlaken über einen Tisch gelegt. Darauf sitzend präsentieren sie ihre Punkte.
Nach ein paar Minuten kommt Nietzard von sich aus noch auf eine Sache zu sprechen, über die bei den Grünen in diesen Tagen eigentlich niemand sprechen möchte: den Fall Stefan Gelbhaar.
Obwohl inzwischen bekannt ist, dass der Pankower Bundestagsabgeordnete mindestens zum Teil mit erfundenen sexuellen Belästigungsvorwürfen zum Rückzug gezwungen wurde, betont Nietzard ihre Solidarität mit den Frauen. „Es gilt als feministische Partei, Betroffenen zu glauben“, sagt sie. In einer Partei gelte – anders als vor Gericht – keine Unschuldsvermutung. Kein Wort des Bedauerns.
Der Ärger über die Äußerungen ist in der Partei groß. Weil Wahlkampf ist, schlucken jedoch viele Grüne ihre Wut hinunter. Vom „System Nietzard“ ist die Rede. Anecken als Erfolgsmodell. „Wenn Jette Nietzard sich zu Wort meldet, bekommen sie bei den Grünen Nervenflattern“, titelt der „Spiegel“ wenige Tage später.
Doch der Fall Gelbhaar, bei dem der Realo-Politiker alle Vorwürfe bestreitet und sieben Frauen anonym an Belästigungsvorwürfen festhalten, wirft auch ein Schlaglicht auf die Grüne Jugend Berlin. Im traditionell links-dominierten Landesverband präsentiert sich die Jugendorganisation noch einen Tick radikaler.
„In anderen Landesverbänden versucht die Grüne Jugend, auch mal konstruktiv mitzuarbeiten. Die Berliner setzen mit ihren Positionen immer eher noch mal einen drauf“, heißt es aus Parteikreisen. Einschätzung aus Grünen-Parteikreisen
Auffällig ist, dass in dem Fall immer wieder Verbindungen zur Grünen Jugend auftauchen. Shirin Kreße, die unter der falschen Identität „Anne K.“ beim Sender RBB eine eidesstattliche Versicherung über Belästigungsvorwürfe abgab, war nicht nur Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Feminismus, sondern auch lange Jahre aktiv im Nachwuchsverband. Ihre Kandidatur in Mitte hatte die Grüne Jugend protegiert.
Leonie Wingerath, Sprecherin der Grünen Jugend in Berlin, machte gegenüber dem RBB erstmals Vorwürfe gegen Gelbhaar wegen sexualisierter Gewalt öffentlich, zog ihr Statement später aber wieder zurück. Auch weitere Mitglieder der Grünen Jugend, darunter mindestens eine Mandatsträgerin, tauchen in dem Fall immer wieder auf.
„Es scheint eine Gruppe innerhalb der Berliner Fundis und der Grünen Jugend Berlin zu geben, die sich offenbar abgesprochen hat“, heißt es aus Berliner Parteikreisen.
Ein Vorwurf, den Nietzard, die dem Kreisverband Berlin-Lichtenberg angehört, zurückweist. Sie habe von den Vorwürfen gegen Gelbhaar erstmals in einer Videoschalte des linken Flügels gehört, sagte sie in der vergangenen Woche. Inzwischen will man sich bei der Grünen Jugend nicht mehr zu der Causa äußern.
Welche Rolle spielt die Grüne Jugend in der Causa Gelbhaar?
Doch für ein Gespräch ist Jakob Blasel auch kurzfristig erreichbar. Als Klimaaktivist von Fridays for Future hat er sich in der Vergangenheit einen Namen gemacht, nun muss er sich um das Klima bei der Grünen Jugend kümmern. Vier Monate ist es her, dass der Bundesvorstand der Grünen Jugend geschlossen zurück- und aus der Partei austrat.
Wir sind eigenständig, teilen uns aber die Werte mit den Grünen. Jakob Blasel, Co-Vorsitzender der Grünen Jugend
Zahlreiche Landesvorsitzende der Grünen Jugend folgten dem Beispiel der damaligen Vorsitzenden Katharina Stolla und Svenja Appuhn. „Dauerhaft ist es nicht möglich, gleichzeitig Teil einer Partei zu sein und für eine grundsätzlich andere Politik zu werben, als die eigene Partei umsetzt“, hieß es im Abschiedsschreiben.
In weiten Teilen der Partei war nach dem Austritt ein Aufatmen zu vernehmen. Die alte Spitze habe sich mit ihrer Frontalopposition verrannt, lautete die freundliche Deutung. Ein Regierungsgrüner bekannte gar, noch in der Nacht eine Flasche Sekt geöffnet zu haben.
„Wir sind eigenständig, teilen uns aber die Werte mit den Grünen“, erklärt Blasel die Doppelrolle, in der sich sein Jugendverband befindet. Er sieht seine Aufgabe darin, junge Menschen von den Grünen zu überzeugen und ihnen ein politisches Zuhause zu bieten. Vor allem mit den Linken und Volt konkurriert die Grüne Jugend dabei.
Auf Kosten der Grünen will Blasel aber keine Punkte sammeln. Auch konstruktiv könne man einiges erreichen: „Es funktioniert nicht, wenn wir der Partei immer nur eins reindrücken wollen.“
Gleichzeitig will die Grüne Jugend ihre Macht ausbauen. „Ich glaube, wir hätten unsere Partei vor allem in den letzten zwei Jahren noch stärker prägen können“, sagt er. In Zukunft wolle man den Kontakt zu den Mandatsträgern intensivieren.
Im Realo-Lager klingt das wohl wie eine Drohung. „Ein Quereinstieg bei den Grünen ist heutzutage fast unmöglich“, sagt ein gut vernetzter Realo-Grüner und verweist auf die Listenaufstellung vor der Europawahl, bei der es nur eine Neue auf einen aussichtsreichen Listenplatz schaffte: die frühere Bundessprecherin der Grünen Jugend, Anna Peters. „Man muss tief verwurzelt sein in der Partei, muss den richtigen Sprech beherrschen“, beklagt der Realo.
Er sieht seinen Flügel in der Pflicht, jungen Menschen ein Angebot zu machen. „Es bräuchte eine Anlaufstelle, in der sich junge, realpolitisch denkende Grüne programmatisch austauschen und weiterentwickeln könnten“, sagt der Realo. „Noch mehr ideologische Parteikader brauchen wir nicht.“
Jakob Blasel reagiert auf die anonymen Vorwürfe gelassen: „Auch die meisten Realos sind froh, dass es eine Grüne Jugend gibt.“
Von Felix Hackenbruch, Christian Latz
Das Original zu diesem Beitrag "Radikal, unerbittlich, gut vernetzt: Das Problem der Grünen mit ihrer Jugend" stammt von Tagesspiegel.