„So wenig auf Syrien vorbereitet" - Nach Assad-Sturz gibt SPD-Mann deutsche Ahnungslosigkeit offen zu „Abermals kalt erwischt“
Herr Roth, in Syrien wurde das Regime von Bashar al-Assad fast über Nacht gestürzt. Ist das ein unverhoffter Tag purer Freude? Oder machen Sie sich schon Sorgen, dass eine Diktatur durch eine andere ersetzt werden könnte?
Roth: Bei aller Erleichterung über den Sturz Assads müssen wir selbstkritisch feststellen: Wir haben das nicht vorhergesehen, abermals wurden wir kalt erwischt. Unsere strategische Vorausschau scheint nach wie vor unterbelichtet zu sein.
Die Möglichkeiten vor der eigenen Haustür wurden nicht genutzt?
In Deutschland leben hunderttausende von Syrerinnen und Syrern mit nach wie vor engen Beziehungen zu ihrem Heimatland. Sie hätten für uns Seismografen für die kommenden Erschütterungen sein können. Es beunruhigt mich, dass wir so wenig auf eine solche dramatische Veränderung in einer für uns wichtigen Region vorbereitet sind. Es ist nur ein schwacher Trost, dass wir es mit vielen Krisen gleichzeitig zu tun haben.
Wurde Syrien als eingefrorerer Konflikt betrachtet mit einer von Russland garantierten vermeintlichen Stabilität des Regimes?
Offenkundig denken wir zu statisch und preisen nicht ein, dass Freiheitsbewegungen und solch blutige Bürgerkriege sehr schnell zu dramatischen Veränderungen führen können. Syrien hätte uns mehr interessieren müssen, weil dort globale Mächte eine wichtige Rolle gespielt haben.
Sie sprechen von Wladimir Putin.
Es ist nicht nur die Niederlage eines blutigen Diktators, der Krieg gegen sein eigenes Volk geführt hat, sondern auch eine strategisches Fiasko für Russland und Iran, die Assad unterstützten. Moskau und Teheran stehen vor einem Scherbenhaufen ihrer aggressiven Nahostpolitik. Daraus leitet sich zumindest die Hoffnung ab, dass Russland nicht über unbeschränkte militärische Kapazitäten verfügt und durch seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine stärker gebunden ist, als wir das bisher dachten.
Zur mangelnden Vorausschau hat Angela Merkel gerade in ihrem Buch eingeräumt, dass stets nur Zeit für die großen aktuellen Krisen war.
Das ist altes Denken aus einer Zeit, in der wir von internationalen Krisen kaum behelligt wurden. Das hat sich dramatisch verändert, worauf die Politik in Deutschland noch keine echte Antwort gefunden hat. Und was ist eigentlich mit den Nachrichtendiensten? Menschlich ist das verständlich, die Bürgerinnen und Bürgern verfügen nur über eine begrenzte Aufnahmekapazität, auch emotional. Aber: Von politischen Profis dürfen wir in dieser krisengeschüttelten Welt erwarten, dass sie strategisch besser aufgestellt sind. Wir haben Syrien als eingefrorenen Konflikt betrachtet und uns anderen Krisen gewidmet.
Klingen die ersten Stellungnahmen aus Kanzleramt und Auswärtigen Amt, in denen Assads Ende als „gute Nachricht“ begrüßt wird, aber die Achtung der Rechte aller syrischen Gruppen angemahnt wird, deshalb so hilflos?
Nachdem nicht nur wir von den Ereignissen völlig überrascht wurden, finde ich eine gewisse Zurückhaltung erst einmal richtig. Die Lage in Syrien ist unübersichtlich. Am Ende waren es keine ausländischen Mächte, sondern die Menschen in Syrien selbst, die das furchtbare Regime verjagt haben.
Die aber keineswegs eine homogene Gruppe bilden.
Syrien ist multiethnisch und multireligiös zusammengesetzt, es gibt freiheitsliebende demokratische Kräfte, aber eben auch islamistische Milizen, die für das Land wie für uns gefährlich sind. In der Vergangenheit ist der Versuch eines Verfassungsprozesses immer wieder gescheitert. Natürlich muss es jetzt um Frieden, Stabilisierung und Versöhnung gehen. Mehr Hoffnung, dass das nun vielleicht doch gelingt, war sicher lange nicht.
Sie gehen also nicht gleich vom Wort-Case-Szenario aus, dass in direkter Nachbarschaft zu Israel ein islamistischer Gottesstaat entsteht, der den Terror unterstützt und im Innern beispielsweise Frauenrechte beschneidet?
Wir sollten nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Natürlich sind im Arabischen Frühling viele Hoffnungen in der bitteren Realität von Machtkämpfen zerstoben und Diktaturen durch andere ersetzt worden. Wie lange haben wir beispielsweise auf Tunesien gesetzt, wo sich nun doch der Autoritarismus durchgesetzt hat? Das ist sehr bitter, vor allem für die Menschen vor Ort. Aber Syrien ist traditionell ein säkulares Land gewesen, wo verschiedene Religionsgruppen friedlich zusammenleben konnten. An diese Tradition lässt sich anknüpfen. Ich hoffe darauf, auch wenn es natürlich keinerlei Garantie gibt.
Wenn es zu dieser friedlichen Entwicklung käme: Würden viele Flüchtlinge auch aus Deutschland zurückkehren? Sie verlören in dem Moment ihren für Bürgerkriegsländer geltenden subsidiären Schutzschutz.
Bestimmt würden viele beim Wiederaufbau eines freien Syrien helfen wollen. Ich erlebe im Wahlkreis, wie Syrer unter der Trennung von ihren Familien und Freunden leiden, weil eben Angehörige die Flucht nicht auf sich nehmen konnten. Vor allem aber hoffe ich, dass wir Geduld aufbringen, die Ereignisse sich entwickeln zu lassen und sie nicht populistisch im Wahlkampf ausgeschlachtet werden. Bei aller Ermüdung und Polarisierung, die das Thema Migration mit sich gebracht hat, wünsche ich mir einen möglichst rationalen Umgang.
Es besteht die Chance auf ein friedliches Land, in das die Syrer wieder werden zurückkehren können. Es gab ja in der Vergangenheit immer wieder Diskussionen, Geflüchtete nach Syrien zurückzuschicken. Aber damals war das nicht möglich. Es wäre fatal, jetzt die Erwartung zu schüren, dass alle Syrerinnen und Syrer binnen weniger Wochen Deutschland verlassen könnten.
Von Christopher Ziedler