Sturm auf Damaskus - Wer die mächtigen Rebellen in Syrien sind - und was sie wollen
Es ist eine Entwicklung, die selbst die Mehrheit der Syrien-Experten vor wenigen Tagen für unmöglich gehalten hätte: In Syrien hatten sich die Kämpfe zwischen den Rebellengruppen und der Armee des Diktators Baschar al-Assad zunächst auf die strategisch wichtige Stadt Hama im Zentrum des Landes zubewegt, nun rollen die Rebellen auf die Haupstadt Damaskus zu.
Schon die Eroberung der Millionenmetropole Aleppo durch die Rebellen Anfang der Woche hatte viele Beobachter erstaunt. Über Hama, eine strategisch wichtige Stadt im westlichen Zentrum von Syrien an einer Verbindungsstraße zwischen Aleppo im Norden des Landes und der Hauptstadt, kamen die Rebellen nun im Umkreis von Damaskus an.
Angeführt werden die Rebellen von der Dschihadistengruppe Hajat Tahrir al-Scham, kurz: HTS. Die HTS kontrollierte bisher nur einen vergleichsweise kleinen Teil in Nordsyrien, die Stadt Idlib und ihre Umgebung.
Nun könnten immer größere Teile Syriens an die HTS und die anderen Rebellengruppen fallen, die aktuell unter ihrem Kommando stehen.
Doch was will die HTS für das Land und die Bürger, und wer ist die HTS überhaupt? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
1. Wie ist die HTS entstanden?
Die heutige HTS entstand zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 als Ableger des IS im Irak. Ihr Name ist so manchem vielleicht noch bekannt: die al-Nusra-Front. Der heutige HTS-Chef Abu Muhammad al-Dschaulani wurde damals vom berüchtigten Terrorführer Abu Bakr al-Baghdadi nach Syrien geschickt. Baghdadis Ziel war es unter anderem, ein weltweites Kalifat zu errichten. Dschaulani sollte den Job in Syrien erledigen.
Die Nusra-Front beging hunderte Selbstmordattentate gegen die syrische Armee und stieg schnell zu einer der größten Rebellengruppen in Syrien auf. Doch sie brach 2013 mit dem IS, nachdem Baghdadi die zwei Gruppen vereinigen wollte.
Sie benannte sich um in Dschabhat Fath asch-Scham und schloss sich der internationalen Terrorgruppe Al Qaida an. Auch hier kam es zum Bruch. Der Grund: asch-Scham dachte sehr viel regionaler und wollte keinen globalen Dschihad. Das oberste Ziel: Der Sturz von Baschar al-Assad.
2017 entstand dann die Hajat Tahrir al-Scham aus dem Zusammenschluss mehrerer Terrorgruppen. Jabhat Fatah al-Scham war damals die größte Gruppe des Zusammenschlusses.
2. Wie unterscheiden sie sich von anderen Dschihadistengruppen wie dem IS?
Der HTS, das legt schon der Name nahe, ist sehr viel regionaler orientiert als andere Dschihadistengruppen wie der IS oder Al Qaida. Hajat Tahrir al-Scham bedeutet Komitee zur Befreiung der Levante. Die Levante umfasst das Gebiet Syriens, des Libanons, Israels, die Palästinensergebiete, Jordanien und kleine Teile der Türkei.
Manche Experten bezeichnen die HTS als „technokratische Salafisten“ oder „Taliban light“. Der Salafismus ist eine extrem konservative Strömung des Islam und hat viele Terrorgruppen inspiriert. Gleichzeitig ist der HTS pragmatischer und will staatliche Strukturen schaffen, wie die HTS sie teilweise schon in der syrischen Stadt Idlib etabliert hat.
Die Taliban in Afghanistan gelten als Vorbild. Die HTS kämpft in Syrien gegen noch radikalere Strömungen wie den IS. Wie radikal die HTS noch denkt, ist unter Experten umstritten. Auch innerhalb der Gruppierung gibt es Hardliner und Pragmatiker.
3. Wer ist ihr Anführer?
Al-Dschaulani hat den HTS in Syrien aufgebaut und kontrolliert ihn immer noch. Ein IS-Kommandeur beschrieb ihn vor Jahren so: „Er ist ein gerissener Mensch; er ist doppelzüngig; er vergöttert sich selbst; er schert sich nicht um die Religion seiner Soldaten; er ist bereit, ihr Blut zu opfern, um sich in den Medien einen Namen zu machen; er strahlt, wenn er seinen Namen in den Satellitenkanälen hört.”
Dschaulani, so könnte man sagen, ist ein narzisstischer Pragmatiker. Er tut, was ihm nützt. Und er braucht vor allem Unterstützer. Gerne auch aus dem Westen. Dem will er sich als Pragmatiker präsentieren. Bisher weitgehend erfolglos. Die USA listen die HTS immer noch als Terrororganisation.
4. Wie viele Mitglieder und Kämpfer hat die HTS?
Wie viele Kämpfer genau die HTS hat, ist unklar. Manche Schätzungen gehen von rund 30.000 Männern aus. Vor allem in den Jahren seit 2020, in denen ein brüchiger Waffenstillstand in Syrien herrschte, professionalisierte die HTS seine Armee und die Ausbildung der Kämpfer, wie der US-Analyst Jerome Drevon schreibt, der auch vor Ort war.
Das erklärt auch den effektiven Einsatz von Aufklärungs- und Kamikazedrohnen durch die Rebellengruppen in der aktuellen Offensive.
5. Wer unterstützt die HTS-Miliz?
Es gilt als sicher, dass die türkische Regierung grünes Licht für die Rebellenoffensive gegeben hat. Die HTS hat keine engen Verbindungen zur Türkei, so wie andere syrische Rebellengruppen, die aus Ankara finanziert und ausgerüstet werden.
Trotzdem arbeitete die HTS in der Stadt Idlib mit türkischen Gesandten zusammen. Wie der ehemalige US-Botschafter für Syrien, Robert Ford, gegenüber der „New York Times“ sagte, unterhält die Türkei in Idlib Militärbasen. Außerdem würden Waffen, Treibstoff und humanitäre Hilfe aus der Türkei nach Idlib gelangen. Auch militärische Informationen sollen zwischen türkischen Offiziellen und der HTS ausgetauscht worden sein.
6. Wie gefährlich ist die HTS und was sind ihre Ziele?
Das klare Ziel der HTS ist der Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad und die Errichtung einer Regierung nach islamischen Prinzipien. Was das genau heißt, ist bisher unklar.
Bisher tut die HTS alles dafür, um sich einen guten Namen zu machen. Die Rebellen versicherten den Christen und Kurden in Aleppo, dass sie in der Stadt sicher sind. Laut Augenzeugenberichten gibt es in Aleppo immer noch Weihnachtsdekoration. Außerdem wurden Plünderungen verhindert und die Stromversorgung für Zivilisten verbessert.
In Idlib aber, einer eher konservativen Stadt, sind HTS-Rebellen für willkürliche Verhaftungen von Kritikern bekannt. Auch Menschenrechtsverletzungen soll die HTS dort begangen haben, berichtet die britische „BBC“. Gleichzeitig gibt es eine Art Regierung, die Steuern erhebt und die öffentliche Infrastruktur unterhält. Humanitäre Helfer aus dem Westen können in Idlib helfen.
Von Benjamin Reuter
Das Original zu diesem Beitrag "„Taliban light“: Wer sind die Rebellen, die gerade in Syrien so erfolgreich sind?" stammt von Tagesspiegel.