Drohender Angriff aus China: Ganz Taiwan bereitet sich jetzt auf den Ernstfall vor
Wenn China angreift, soll nicht nur Taiwans Militär bereit sein. Auch die Bevölkerung wird auf den Kriegsfall vorbereitet.
Der nächste Luftschutzraum ist in Taipeh nie weit entfernt. An fast jeder Straßenecke zeigt in Taiwans Hauptstadt ein dicker roter Pfeil, wo man sich im Ernstfall in Sicherheit bringen kann. Im Ernstfalls – das bedeutet: wenn mal wieder ein Taifun über den Inselstaat bläst, wie zuletzt Anfang der Woche, als „Dainas“ Hunderte Verletzte und zwei Tote forderte. Noch wichtiger freilich wären die Schutzräume, sollte Taiwans großer Nachbar China Ernst machen und angreifen; Peking betrachtet das demokratisch regierte Taiwan als Teil des eigenen Staatsgebiets und droht seit Jahren damit, sich den Inselstaat einzuverleiben, notfalls mit Gewalt.
Rund 82.000 Luftschutzräume gibt es in ganz Taiwan, sie bieten Platz für mehr als 50 Millionen Menschen. „Das ist doppelt so viel, wie Menschen in Taiwan leben“, sagte Liu Shyh-fang, die Innenministerin des Landes, vor wenigen Tagen. Im Rahmen des „Nationalen Monats der Einheit“, den Taiwans Präsident Lai Ching-te für diesen Juli ausgerufen hat, sollen sich die Bürger des Landes mit den Luftschutzräumen vertraut machen. Und sie sollen lernen, was sie im Ernstfall mit in die Schutzräume nehmen sollen. Wasser und Lebensmittel zum Beispiel, aber auch einen Schutzhelm und ein Radio.
Mit „Han Kuang“ übt Taiwan für den Krieg mit China
Doch taiwanische Medien nutzen die Gelegenheit auch, um die Zustände der Schutzräume zu kritisieren. Die Beschilderung sei oftmals verwirrend, klagte etwa ein Reporter des öffentlich-rechtlichen Nachrichtenangebots TaiwanPlus, in den Räumen gebe es keine Vorräte, die Belüftung sei schlecht. Vor allem aber handle es sich bei den meisten Luftschutzräumen lediglich um Tiefgaragen oder Kellergeschosse. Ob man dort sicher wäre, sollten chinesische Raketen auf Taipeh fallen: unklar.
Ein möglicher Krieg mit China, er ist Taiwan stets präsent. Vor allem in diesen Tagen. Denn ab Mittwoch findet in Taiwan die größte Militärübung des Landes statt. „Han Kuang“ heißt das jährliche Manöver, das seit 1984 abgehalten wird. In diesem Jahr soll es doppelt so lange dauern wie üblich, zehn statt fünf Tage. Neben aktiven Soldaten sind mehr als 22.000 Reservisten an der Übung beteiligt, so viele wie nie zuvor. Simuliert wird unter anderem eine chinesische Invasion der Insel. Erstmals soll zudem die gesamte Bevölkerung an der Übung beteiligt werden. „Gesamtgesellschaftliche Resilienz“ nennt Taiwans Präsident den Ansatz. Nicht nur Militär und Regierung sollen sich auf einen chinesischen Angriff vorbereiten, sondern alle gut 23 Millionen Taiwaner.

„Im Ernstfall ist es wichtig, dass das Militär und die Zivilgesellschaft zusammenarbeiten“, sagt der Sicherheitsexperte Sheu Jyh-Shyang vom Institute for National Defense and Security Research, einer Denkfabrik, die dem taiwanischen Verteidigungsministerium nahesteht. „Deshalb müssen wir sicherstellen, dass die gesamte Gesellschaft mobilisiert wird“, so Sheu zum Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA.
Konflikt zwischen China und Taiwan: „Die Verteidigungsfähigkeit der Bevölkerung muss erhöht werden“
Konkret werden beim „Han Kuang“-Manöver beispielsweise großräumige Evakuierungen geübt, etwa in Einkaufszentren. Im ganzen Land sind 30-minütige Luftschutzübungen geplant, bei denen die Menschen über Sirenen, Fernseh- und Radiosendungen sowie Handy-Alerts aufgefordert werden, sich zu Sammelstellen und in Luftschutzräume zu begeben. Ziel der Übung sei es, eine umfassende Reaktion auf einen Krieg zu simulieren, erklärte das taiwanische Verteidigungsministerium.
„Die Verteidigungsfähigkeit der Bevölkerung muss erhöht werden“, sagt Analyst Sheu. Noch sei das Land nicht ausreichend vorbereitet, Übungen wie „Han Kuang“ seien deshalb sinnvoll. „Jeder einzelne muss wissen, wie er sich im Konfliktfall verhalten soll. Was er selbst tun und wie er anderen helfen kann.“ Wichtig sei zudem, dass das öffentliche Leben auch in Kriegszeiten nicht zusammenbreche, auch das sei Bestandteil der Übung. Erstmals wird in diesem Jahr Taiwans größte Supermarktkette PX Mart in das Militärmanöver eingebunden, geprobt wird die Ausgabe von humanitären Hilfsgütern über die Filialen des Händlers. Zudem steht der Umgang mit chinesischen Fake-News und Desinformationskampagnen im Zentrum der Übung.
„China verhält sich immer aggressiver“
Seit Präsident Lai vor etwas mehr als einem Jahr sein Amt angetreten hat, haben die Spannungen mit China allerdings auch zugenommen, Peking hat mehrere große Militärmanöver in der Region durchgeführt. „China verhält sich immer aggressiver“, sagt Analyst Sheu. Peking betrachtet den 65-jährigen Lai als „gefährlichen Separatisten“, und auch in Taiwan selbst ist nicht jeder glücklich mit Lais konfrontativer Rhetorik in Richtung China. So hatte Lai die Volksrepublik etwa als „feindliche ausländische Macht“ bezeichnet.
Einer Umfrage vom vergangenen Jahr zufolge wären knapp 68 Prozent der Taiwaner bereit, für ihr Land zu kämpfen, sollte China angreifen. Ob Peking tatsächlich eine Invasion vorbereitet, ist indes unklar. Viele Beobachter glauben, dass Peking vielmehr versuchen könnte, Taiwan mit einer Blockade von der Außenwelt abzuschneiden, um die Moral der Bevölkerung zu brechen. Auch ein solches Szenario wird beim „Han Kuang“-Manöver in diesem Jahr durchgespielt. Nur auf seine 82.000 Luftschutzräume will sich Taiwan nicht verlassen.