Um Putins Truppen zu stoppen: Ukraine setzt Hoffnungen auf „starkes Geländehindernis“
Russlands Armee will Tschassiw Jar im Donbass wohl um jeden Preis einnehmen. Die ukrainischen Truppen bereitet den Angreifern Fallen an einem kniffligen Gewässer.
Tschassiw Jar - Die Kämpfe im Ukraine-Krieg haben aktuell zwei Schwerpunkte: Kupjansk und Tschassiw Jar. Während sich die ukrainische Armee bei Kupjansk in der Region Charkiw auf eine Verteidigungslinie zurückzieht, steht auch die Kleinstadt in der Oblast Donezk schwer unter Druck.
Verluste im Ukraine-Krieg: Heftige Kämpfe um Donbass-Kleinstadt Tschassiw Jar
Der Vize-Chef des ukrainischen Geheimdienstes, Wadjim Sibitskyj, hatte Anfang Mai im Interview mit The Economist erklärt, dass eine Einnahme von Tschassiw Jar knapp 18 Kilometer südöstlich von Kramatorsk durch die Streitkräfte aus Russland „nur eine Frage der Zeit“ sei. Das Städtchen mit seinen früher 13.500 Einwohnerinnen und Einwohnern gleicht nach russischem Dauerbeschuss einer regelrecht apokalyptischen Ruinen-Landschaft.
Um die Invasionstruppen von Kreml-Autokrat Wladimir Putin doch noch aufzuhalten, setzen die ukrainischen Soldaten jetzt auf einen Wasserkanal, den einst das damals kommunistische Regime aus Moskau über 133,4 Kilometer Länge in der Ukraine bauen ließ: den Siwerskyj-Donezk-Donbass-Kanal.
Ukraine-Front bei Tschassiw Jar: Russische Armee greift nächste Donbass-Stadt an
Ivan Tymochko, der Kommandant der Reserveeinheiten der Bodentruppen, teilte bei Telegram ein Drohnen-Video vom heftig umkämpften Frontabschnitt bei Tschassiw Jar. Die Aufnahmen zeigen eine zerstörte Brücke über den Kanal, der einst in der Sowjetunion Mitte der 1950er Jahre zwischen den Großstädten Slowjansk und Donezk gebaut wurde, um die damals großen Industrieanlagen im ukrainischen Teil des Donbass mit Wasser zu versorgen – zum Beispiel zur Kühlung der Hochöfen in der Stahlindustrie.
Bemerkenswert: Am westlichen Ufer, mutmaßlich unter ukrainischer Kontrolle, steht ein zerstörter Baustellen-Sattelzug direkt an der ebenfalls zerstörten Brücke. Der LKW steht in Flammen. Kurz zuvor hatte wohl irgendjemand an der Stelle des eingebrochenen Übergangs noch Kies oder Schotter in das Kanalbecken abgelassen. Das Video wurde von ukrainischen Militär-Bloggern eifrig bei X (vormals Twitter) geteilt. Unklar ist, wer den später brennenden LKW an Ort und Stelle platziert hat, wo das riesige Gefährt neben dem Wasserkanal theoretisch eine zweite Barriere bildet. Anders formuliert: So ein ausgebrannter Lastwagen muss erstmal beiseite geschafft werden.
Siwerskyj-Donezk-Donbass-Kanal
Der Siwerskyj-Donezk-Donbass-Kanal ist ein in den 1950er-Jahren in der Sowjetunion erbauter und mit Pumpstationen versehener Kanal zur Sicherstellung der Wasserversorgung für die Industrieanlagen im Donbass. Der Kanal verbindet den Fluss Siwerskyj Donez mit dem Oberkalmiusker Stausee. Die Länge beträgt 133,4 Kilometer, wovon 107 Kilometer oberirdisch verlaufen.
Meine news
Gegen Wladimir Putins russische Armee: Ukrainer nutzen Wasserkanal als Hindernis
Stellten die Ukrainer den LKW bewusst brennend ab? Oder versuchten die Russen, die offenbar explodierte Straße über den Wasserkanal wieder zu befüllen? Spekulation. Deutlicher wird dagegen, dass die ukrainischen Streitkräfte den Kanal offensichtlich als natürliche Verteidigungslinie nutzen wollen. Dieser Ansicht ist etwa ein viel zitierter Militär-Experte aus dem Westen, der das Kriegsgeschehen aus der Ferne stets im Blick behält: Oberst Markus Reisner vom Generalstab des österreichischen Bundesheeres.
„Wir haben keinen Durchbruch, wir haben Einbrüche in die Verteidigungsanlagen der Ukraine“, erklärte der Militär-Historiker aus Wien n-tv.de: „Das ist einerseits westlich von Bachmut, also Tschassiw Jar, wo die russischen Truppen auf dem Weg in Richtung dieses Kanals sind, der Tschassiw Jar von Bachmut trennt. Und der ein wirklich starkes Geländehindernis ist. Es ist das Ziel der Russen, dieses Geländehindernis, diesen Kanal zu überwinden, um dann die Höhe von Tschassiw Jar in Besitz zu nehmen. Das wäre ein markantes, herzeigbares Ergebnis.“
Ukraine-Krieg: Russische Armee Putins zielt wohl auf Kramatorsk ab
Während die ukrainischen Streitkräfte der Schwarzmeerflotte Putins auf der Krim weiter zusetzen, hat Tschassiw Jar auf dem Festland eine erhebliche strategische Bedeutung für die Verteidiger. Denn: Moskaus Invasionsarmee stößt auch etwas weiter südlich vor, und zwar nordwestlich von Awdijiwka, und das, obwohl die russischen Soldaten teils auf „Schildkrötenpanzer“ zurückgreifen müssen, die auf dem Schlachtfeld regelrecht absurd aussehen.
Offenbar versuchen die Russen, beide Truppenteile südlich von Kramatorsk zusammenzuführen, und so erhebliche Geländegewinne zu erzielen, weil die Ukrainer sich zurückziehen müssen, damit keine Einheiten versprengt zurückbleiben und im schlechtesten Fall eingekesselt werden. Das Institute for the Study of War (ISW) schrieb Ende Februar bei einem solchen Vorgehen von einer „mehrachsigen Offensivoperation“. Um dann gesammelt und aus dem Süden kommend Kramatorsk anzugreifen? Dort befindet sich jedenfalls das ukrainische Hauptquartier für den gesamten Osten des geschundenen Landes. (pm)