Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das das Albanien-Modell der italienischen Regierung kippte, sollte laut Hans-Jürgen Papier nicht überschätzt werden. Das Gericht habe nicht das Asylverfahren als solches bewertet. "Im Zentrum stand dabei die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Mitgliedstaat ein anderes Land als 'sicheres Herkunftsland' einstufen darf", sagt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVG) im Interview mit "Welt".
"Hinzu kommt: Der Gerichtshof hat auf Basis des aktuellen EU-Asylrechts geurteilt. Das wird sich mit dem Inkrafttreten des novellierten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im kommenden Jahr ändern", so Papier weiter.
Im selben Zuge kritisierte er gegenüber "Welt" das derzeitige Asylrecht der EU und nannte die geplanten Änderungen nicht ausreichend, obwohl sie Verbesserungen des "strukturell missbrauchsanfälligen und funktionsunfähigen Systems" brächten. "Im Grunde kann heute jeder Mensch auf der Welt unter Berufung auf einen beabsichtigten Asylantrag in die Europäische Union einreisen. Und zwar letztlich in den Mitgliedstaat seiner Wahl."
"Einwanderungsrecht durch die Hintertür": Papier fordert große EU-Asylreform
Für Papier sei das ein "faktisches Einwanderungsrecht durch die Hintertür - und genau das ist nicht der Sinn des Asylrechts. Es darf nicht länger als Vehikel für unkontrollierte und voraussetzungslose Migration dienen."
Diese könne auch das GEAS nicht stoppen. "Solange Menschen illegal nach Europa einreisen und dann faktisch nicht mehr rückgeführt werden können – selbst wenn sie ausreisepflichtig sind –, wird es keine wirksame Steuerung geben."
Die eigentliche Aufgabe bleibt für den ehemaligen BVG-Präsidenten klar. "Eine grundlegende Reform des gesamten EU-Asylsystems – über das hinaus, was derzeit für 2026 geplant ist."
Papier hält Zurückweisungen an deutscher Grenze für legal
Die umstrittenen Zurückweisungen an der deutschen Grenze hält Papier indes für legal. "Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass weder das Sekundärrecht noch das Primärrecht der EU ein generelles, voraussetzungsloses Einreiserecht gewähren, sobald jemand 'Asyl' sagt. Tatsächlich scheitern Rückführungsverfahren regelmäßig."
Deutschland müsste eigentlich viele Asylbewerber in den zuständigen Erstaufnahmestaat zurückschicken - das klappe aber oft nicht. "Sobald etwa medizinische Atteste vorgelegt, Betroffene nicht angetroffen werden oder Fristen verstrichen sind, ist die Überstellung rechtlich oder faktisch unmöglich", so der ehemalige BVG-Präsident bei "Welt". "Die Realität widerspricht also dem Recht – und das kann nicht auf Dauer tragbar sein."