Lawrow rügt „kranke Fantasien“ – und orakelt über „Weltgipfel zur Selenskyj-Formel“
Russland weiß um seine gestärkte Position im Ukraine-Krieg. Sergej Lawrow gibt sich siegesgewiss. Mit der Wahrheit nimmt er es dabei nicht zu genau - trotz gegensätzlicher Beteuerungen.
Moskau – Im Ukraine-Krieg scheint sich das Blatt, zumindest zeitweise, gewendet zu haben. Während die Ukraine die hochgesteckten Ziele der im Sommer gestarteten Gegenoffensive nicht erreichen konnte und sich bei den westlichen Verbündeten langsam ein Rückgang der Unterstützungswilligkeit abzeichnet, steht der russische Präsident Wladimir Putin in der Wahrnehmung wesentlich besser da als vor einem Jahr.

In Russland weiß man diese Wendung propagandistisch geschickt zu nutzen - wie sollte es auch anders sein. Schließlich schien die Welt in den staatlichen russischen Medien auch zu dem Zeitpunkt in bester Ordnung gewesen zu sein, als das Land zu Beginn des Ukraine-Kriegs schwere Niederlagen einstecken musste. Trotzdem gibt ein just von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti veröffentlichtes Interview mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow interessante Einblicke in die Selbstwahrnehmung des Landes und verdeutlicht die Täter-Opfer-Umkehr in puncto Ukraine-Krieg.
„Gesamter kollektiver Westen gegen Russland“ - Siegreich im Ukraine-Krieg dank Putin?
Für Sergej Lawrow ist die Sache klar: Für ihn sei es eindeutig ein „Ergebnis dieses hybriden Krieges des gesamten kollektiven Westens gegen Russland, der von den Händen, den Körpern und allen anderen Komponenten der ukrainischen Gesellschaft gegen uns entfesselt wurde“, dass „Russland im Laufe dieses Jahres deutlich stärker geworden“ und die Einheit des russischen Volkes zugenommen habe. Dies sei der Verdienst des gesamten russischen Volkes, allen voran die „gesamte Führung mit dem Präsidenten an der Spitze“.
Russland bereite sich darauf vor, „alle gesetzten Ziele der speziellen Militäroperation, einschließlich der Entmilitarisierung der Ukraine“ umzusetzen. Die Versuche der westlichen Länder, den Konflikt so zu lösen, dass Kiew zum Sieger erklärt werde, seien nichts als Augenwischerei. Letztlich sei die „ukrainische Friedensformel“ bloßes „Hirngespinst einer kranken Fantasie“.
Zu Wolodymyr Selenskyjs „ukrainischer Friedensformel“ gehören der vollständige Abzug russischer Truppen vom ukrainischen Staatsgebiet, die Freilassung aller Kriegsgefangenen, ein Tribunal gegen russische Kriegsverbrecher sowie Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Ein erstes Treffen zu den Plänen des ukrainischen Staatschefs hatte im Juni dieses Jahres in Kopenhagen stattgefunden. Zuletzt war Selenskyj bei seinem Argentinien-Besuch zur Amtseinführung des neuen Staatschefs Javier Milei mit mehreren südamerikanischen Staatschefs zusammengekommen, um über die Pläne zu sprechen. Auf X (früher: Twitter) hatte er gleich darauf eine nächste Runde der Gespräche für Januar angekündigt.
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Der Dollar als Instrument der USA - Achtet Russland die Bedürfnisse der Entwicklungsländer?
Diese Tatsache ließ der russische Außenminister im Interview mit RIA Nowosti nicht unkommentiert. Unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit habe „ein Treffen unter Beteiligung westlicher Länder und einiger Staaten des globalen Südens“ stattgefunden, in dem über die „Selenskyj-Formel“ gesprochen worden sei. Im Januar wolle der ukrainische Staatschef gleich „einen ganzen Friedensgipfel“ abhalten, „auf dem diese ‚Selenskyj-Formel‘ verabschiedet“ werden solle.
Deutliche Kritik übte Lawrow auch an den USA. Diese mischten sich mithilfe des Dollars in der Welt ein, „um die legitime Wettbewerbsposition von Ländern in verschiedenen Regionen zu untergraben“. Der Dollar werde so zu einem „Instrument, um sich in die inneren Angelegenheiten einzumischen, zum Regimewechsel“. Laut Lawrow missachten die USA „ihre eigenen Prinzipien des fairen Wettbewerbs“, in dem sie „den BRICS-Mitgliedern und anderen Entwicklungsländern, die wirtschaftlich und finanziell aufgestiegen sind“ nicht die „Quoten im Internationalen Währungsfonds und in der Weltbank“ gäben, die dem tatsächlichen wirtschaftlichen Gewicht dieser Länder nicht entsprächen.
Russland „versucht“ immer, die Wahrheit zu sagen - „souveränen Gleichheit der Staaten“ als Ziel?
Die demokratische Regierung der USA versuche „nicht nur die ganze Welt, sondern auch ihr eigenes Land unter Verletzung ihrer eigenen Verfassung zu unterwerfen“, so Lawrow. Nur eine „ernsthafte innere Umwälzung“ könne die Vereinigten Staaten von dem Gefühl der eigenen Überlegenheit befreien. Ob Russland vorhat, bei dieser „Umwälzung“ etwas nachzuhelfen, verriet Lawrow nicht - denkbar ist es allemal. Schließlich hatte der, inzwischen verstorbene Chef der Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, im November letzten Jahres über eine Einmischung in US-Wahlen gesprochen und erklärt, dies auch künftig tun zu wollen. „Wir haben uns eingemischt, wir mischen uns ein und wir werden uns weiterhin einmischen. Sorgfältig, genau, chirurgisch und auf unsere eigene Weise“, so Progoschin damals.
Zu den Aufgaben der russischen Innenpolitik im kommenden Jahr sagte Lawrow, es gehe darum, eine objektive Wahrnehmung Russlands zu gewährleisten. Schließlich „versuche“ Moskau im Gegensatz zum Westen auf der internationalen Bühne immer die Wahrheit zu sagen. „Wir versuchen immer, die Wahrheit zu sagen, direkt zu sprechen. Das ist besonders unter den gegenwärtigen Umständen notwendig, wo jeder wissen muss, wer wer ist, wer was wert ist und wer was anstrebt“, so Lawrow. Zudem sei Russland bestrebt, den wichtigsten Grundsatz der UN-Charta zu erfüllen: „die Achtung der souveränen Gleichheit der Staaten“. Besonders weit scheint Russland mit seinem Wahrheits-Versuch also nicht gekommen zu sein. (tpn)