Kempten: Fatih Çevikkollu erzählt vom Schicksal der Arbeitsmigranten
Wer bislang nicht wusste, was unter einer „Kartonwand“ zu verstehen ist, wurde an diesem „Bewegten Donnerstag“ aufgeklärt. Fatih Çevikkollu, Kabarettist, Autor und Erzähler, berichtete vom Trauma der Arbeitsmigranten am Beispiel seiner Familie.
Kempten – In der kleinen Wohnung in Köln-Nippes, die sich fünf Personen teilten, gab es an der Wand des Elternschlafzimmers aufgestapelte Kartons, in denen das gute Geschirr, die neuen Elektrogeräte und andere Kostbarkeiten für die geplante Rückkehr in die Türkei aufbewahrt wurden. Doch der Rückkehrgedanke entwickelte sich über die Jahre zur familiären Lebenslüge. Ursprünglich, als Çevikkollus Eltern 1966 aus dem türkischen Adana nach Deutschland reisten, wollten sie nur wenige Jahre bleiben, hier arbeiten und sparen. Daraus entwickelte sich für die Familie mit drei Buben ein Leben im Stand-by-Modus.
Ungünstige Lebensbedingungen können krank machen
Zur Rückkehr in die politisch instabile Türkei, die den Eltern keine Perspektive bot, kam es nie. Sie hatten über Jahre hinweg das Gefühl, es lohne sich nicht, in den deutschen Alltag zu investieren – mit fatalen Folgen für die psychische Gesundheit, zumindest der Mutter. Sie erkrankte an einer Psychose, die schließlich zur räumlichen Trennung vom Ehemann führte und nach ihrem Tod beim Sohn die quälende Frage aufwarf: „Wie viel von der Krankheit war individuell, wie viel der schwierigen Situation geschuldet?“ Es gibt nachweislich eine Verbindung zwischen Migration und psychischer Krankheit, nämlich wenn ungünstige Lebensbedingungen und persönliche Anfälligkeit zusammentreffen.
Arbeitsmigranten: Die baldige Rückkehr war politisch gewollt
Aber auch die deutsche Migrationspolitik unter Bundeskanzler Helmut Kohl war am „Rückkehrförderungsgesetz“ orientiert und verkannte den dauerhaften Charakter der Arbeitsmigration. Fatih Çevikkollu hat die deutsche Nachkriegsgesellschaft gründlich studiert – „1955 war das Land noch voller Nazis“ – und ist dabei auf unverhohlene Ausländerfeindlichkeit gestoßen, etwa auf erniedrigende Prozeduren bei der Ankunft in Deutschland. Gesucht wurden ungebildete kräftige Arbeiter, belastbare Männer „mit Schwielen an den Händen“, die nach ein paar Jahren wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren sollten.
Bindungsabbrüche bei „Kofferkindern“
Auch das Schicksal der „Kofferkinder“ kam zur Sprache. Viele Kinder türkischer Familien wurden zwischen den beiden Ländern hin und her geschickt. Mal lebten sie bei den Großeltern in der Türkei, dann wieder bei ihren Eltern in Deutschland. Bindungsabbrüche waren die Folge, die Suche nach der eigenen Identität wurde deutlich erschwert. Çevikkollu hat all das selbst erlebt, die Abwertung als Türke, das Ausgeschlossensein – er berichtete offen und nichts beschönigend von seinen Erfahrungen und dem Verlangen, sich die „Deutungshoheit“ über sein Leben zu erhalten. Seine Versuche, mit dem drakonisch strafenden Vater seiner Kindheit über die Familiengeschichte zu sprechen, scheiterten weitgehend. „Mein Leben war für die Katz‘“, bilanzierte dieser im Alter bitter. Und wo war damals die Mutter? Warum taucht sie in seinen Erinnerungen nicht auf? Darüber kann er nur spekulieren. Dass sie sich in die Religion geflüchtet hat und in diesen religiösen Wahn abdriftete, war wohl ihrer verzweifelten Suche nach einem Halt geschuldet, dem Wunsch, sich irgendwo heimisch zu fühlen.
Signale der Zugehörigkeit fehlen noch immer
Als Ex-Bundespräsident Christian Wulff 2010 bei seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit sagte, der Islam gehöre inzwischen auch zu Deutschland, ist Çevikkollu „fast vom Fahrrad gefallen“. Dieses Signal der Zugehörigkeit hatte bislang gefehlt. Im Gespräch mit dem offensichtlich beeindruckten Publikum kam auch die Frage auf, weshalb türkischstämmige Jugendliche die Türkei glorifizieren, obwohl sie nie dort gelebt haben. „Sie meinen eigentlich gar nicht die Türkei, fühlen sich hier aber nicht ausreichend akzeptiert“, so der Autor von „Kartonwand“. Er plädierte für eine offene Gesellschaft, die Vielfalt als Stärke, nicht als Bedrohung begreift.
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