Analyse von Hugo Müller-Vogg - Kein Geld für ersten Krankheitstag? Mit Idee hilft Allianz-Boss ausgerechnet dem Kanzler
Oliver Bäte, der Chef des größten deutschen Versicherungskonzerns Allianz, hat sich im „Handelsblatt“ für eine höhere Erbschaftsteuer ausgesprochen. „In dieser Frage stehe ich politisch ziemlich weit links“, sagte er dazu.
Daraus lässt sich schließen, dass der Top-Manager sich ansonsten nicht für einen ausgemachten Linken hält. Das belegt sein zeitgleicher Vorstoß, kranken Arbeitnehmern am ersten Tag die Lohnfortzahlung zu streichen.
Lohnfortzahlung bei Krankheit: Eine „heilige Kuh“ der Gewerkschaften
Dass Lohn und Gehalt bei Krankheit vom ersten Tag an ungekürzt weiterlaufen, ist für die Gewerkschaften und Sozialdemokraten eine „heilige Kuh“. Schon der leiseste Verdacht, gesunde Arbeitnehmer könnten auch mal bei vollem Lohnausgleich blaumachen, gilt ihnen als Ausgeburt neoliberalen, höchst unsozialen, also rechten Denkens.
Nun begründet Bäte seinen Vorstoß mit guten Argumenten. Deutschland sei „Weltmeister bei den Krankmeldungen“. Die Lohnfortzahlung belaste Arbeitgeber und Krankenkassen laut Bäte mit fast 100 Milliarden Euro im Jahr, das entspreche sechs Prozent der gesamten Sozialausgaben. In der EU seien das im Durchschnitt gerade mal 3,5 Prozent.
Mit seiner Idee hilft Allianz-Boss ausgerechnet der SPD
Was immer den Allianz-Chef bewogen haben mag, seinen Vorstoß für „Leistungskürzungen im Sozialbereich“ ausgerechnet zu Beginn der heißen Wahlkampfphase zu machen, weiß wohl nur er. Für die linken Parteien, allen voran die Sozialdemokraten, ist dies jedoch eine Steilvorlage.
Die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten und Kanzler Olaf Scholz wird sich gern zum Schutzpatron kranker Arbeitnehmer erklären. Die Grünen, die Linke und das BSW werden sich ebenfalls dagegen wenden, dass angeblich böse Kapitalisten halb tote Arbeitnehmer zwingen wollten, sich aus finanzieller Not an den Arbeitsplatz zu schleppen.
Die Linken-Vorsitzende Ines Schwerdtner griff den Wahlkampfbeitrag Bätes schnell auf: „Selbst fette Verdienste einstreichen und anderen Lohn vorenthalten wollen: Viel arroganter kann ein Boss den Beschäftigten nicht zeigen, was er von ihnen hält.“
Telefonische Krankschreibung „setzt falsche Anreize"
Die Frage, ob die Lohnfortzahlung bereits am ersten Krankheitstag einsetzt oder erst nach ein, zwei oder drei Karenztagen, kommt immer wieder auf. Denn Arbeitgeber vermuten hier eine Gelegenheit zum Missbrauch.
Dabei fällt auf, dass die Zahl der Krankmeldungen stark angestiegen ist, seit Arbeitnehmer ihren Arzt telefonisch um eine Krankmeldung bitten können und nicht mehr dessen Praxis aufsuchen müssen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat sich die Zahl der Krankheitstage seit 2007 nahezu verdoppelt – von 8,1 auf 15,1 Tage im Jahr 2023.
Neben den Arbeitgebern sind auch viele Ökonomen für Karenztage. Die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, hat erst kürzlich gesagt, die telefonische Krankschreibung „setzt falsche Anreize, mal eben kurz krank zu sein“. Deshalb müsse man über Karenztage nachdenken.
SPD schweigt in ihrem Wahlprogramm zur Lohnfortzahlung
Im Grundsatz sind die FDP und der Wirtschaftsflügel der Union ebenfalls für Karenztage. In den Wahlprogrammen beider Parteien gibt es dazu jedoch keine Aussagen. Die SPD erwähnt die Lohnfortzahlung in ihrem Programm ebenfalls nicht. Aber als es entworfen wurde, hatte der Allianz-Chef die Verteidiger des teuren Sozialstaats noch nicht herausgefordert.
Gut möglich, dass Bäte allen Wahlkämpfern links der Mitte gleich auf doppelte Weise als Kronzeuge dient: als vermeintlicher Gegner des Sozialstaats wie als Befürworter höherer Steuern aufs Ererbte, also als herzloser Kapitalist und radikaler Klassenkämpfer zugleich.
Deutschland bei der Zahl der Arztbesuche auf Platz 7
Der Kapitalist Bäte geißelt die hohen Ausgaben der Krankenkassen, findet es „irre“, dass Deutschland bei der Zahl der Arztbesuche in der EU auf Platz 7 steht.
Der Klassenkämpfer Bäte redet dagegen wie ein Juso-Funktionär mit hoher Betriebstemperatur, wenn er höhere Erbschaftsteuern fordert: „Mir geht es darum, die Menschen zu besteuern, die sehr komfortabel leben können, ohne einen einzigen Tag gearbeitet zu haben“.
Bäte hat sich mit seinen politisch brisanten Aussagen in den Wahlkampf eingemischt. Ob er das wollte oder nicht: Von der Union wie von der FDP kann er keine Dankschreiben erwarten.