Bei 2 Zahlen liegt die SPD plötzlich vor Merz – es gibt aber auch 2 Probleme
- Im Video: Warum Bärbel Bas das Zeug zum neuen SPD-Star hat
Die SPD hatte kaum Zeit, um nach der Bundestagswahl ihre historische Niederlage aufzuarbeiten. Die Partei war beschäftigt mit Sondierungsgesprächen, der Diskussion um die Schuldenbremse, Koalitionsverhandlungen und schließlich dem Start der neuen Regierung. Dabei hatten viele Sozialdemokraten die Befürchtung, die SPD würde noch weiter abstürzen.
Drei Monate nach der Wahl geht es für die Partei auf den ersten Blick weder nach unten noch nach oben. Zum Beispiel in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen landete die SPD bei 16 Prozent – ziemlich genau dem Ergebnis, das sie auch im Februar eingefahren hat.
Schaut man aber genauer hin, gibt es durchaus positive Punkte, die der Partei Hoffnung machen können. Allerdings stehen dem auch negative Punkte entgegen, die ihr eher Sorgen bereiten sollten.
Positiv: Die SPD hat mehr Potenzial als die Union
Abseits der Sonntagsfrage verbergen sich in den Umfragen einige Zahlen, die darauf hindeuten könnten, dass die Bürger wieder etwas positiver auf die SPD schauen. Zum einen ist da das Potenzial. Es beschreibt, wie viele Bürger sich theoretisch vorstellten können, einmal die SPD zu wählen, auch wenn sie eigentlich eine andere Partei präferieren. Die Forschungsgruppe Wahlen beziffert diesen Wert auf 44 Prozent. Damit hat die SPD das größte Potenzial aller Parteien, also sogar vor der Union.
Und nicht nur das: Die SPD konnte ihr Potenzial um elf Prozent im Vergleich zu Anfang Februar vergrößern. Volker Best, Politikwissenschaftler an der Uni Halle, warnt allerdings davor, das überzubewerten: "Kurz vor einer Wahl sind sehr viele Bürger klar entschieden, für wen sie stimmen wollen. Bei der Frage nach möglichen anderen Parteien, die sie theoretisch auch wählen könnten, geben sie eher weniger noch weitere an." Tatsächlich zeigt sich, dass außer der Union auch alle anderen Parteien ihr Potenzial seit Februar vergrößern konnten – wenn auch in etwas geringerem Maße als die SPD.
Vergleicht man das Potenzial mit noch früheren Umfragen, ist der Wert der SPD jetzt ungefähr wieder dort, wo er schon einmal war. Die scheidende Parteichefin Saskia Esken hat im vergangenen November beispielsweise darauf hingewiesen, dass das Potenzial der SPD zu diesem Zeitpunkt bei 47 Prozent lag. Das zeigt: Potenzial ist das eine – es in einem Wahlkampf möglichst voll auszuschöpfen das andere.
Positiv: Das Spitzenpersonal der SPD kommt gut an
Hoffnungsvoll sind aber auch die Beliebtheitswerte der führenden SPD-Politiker. Verteidigungsminister Boris Pistorius steht in allen Umfragen weiter unangefochten der Spitze. Aber auch Parteichef und Vizekanzler Lars Klingbeil hat ein gutes Image und ist weitaus beliebter als zum Beispiel CDU-Chef und Kanzler Friedrich Merz. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa taucht auch die wahrscheinlich künftige Co-Vorsitzende und Arbeitsministerin Bärbel Bas weit vorne im Beliebtheitsranking auf.
Damit sind die drei beliebtesten Minister der neuen Regierung allesamt Sozialdemokraten. Politikwissenschaftler Best ist allerdings unschlüssig, ob sich diese Beliebtheit künftig auch tatsächlich in bessere Wahlergebnisse umsetzen lässt: "Zum Beispiel Pistorius kommt bei Anhängern der Union gut an. Die Frage ist aber: Sind das eingefleischte CDU-Wähler, die ihn einfach als Person gut finden? Oder sind das Wechselwähler, die ein Pistorius tatsächlich zur SPD ziehen könnte?" Zudem müsse sich zeigen, ob Klingbeil und Bas ihre Werte halten könnten – und das vor allem bei Anhängern anderer Parteien.
Bei den Beliebtheitswerten ist aber auch das untere Ende der Skala relevant: Dort stand häufig die chronisch unpopuläre Esken. Dass sie in der SPD künftig keine tragende Rolle mehr spielen wird, könnte der Partei insgesamt helfen. Das glaubt auch Experte Best: "Es ist ein gutes Signal, dass Esken als Vorsitzende aufhört und auch kein Ministeramt bekommen hat. So kann die SPD Veränderungsbereitschaft signalisieren."
Gefahr: SPD-Chefs mit Doppelbelastung und die Kabinettsdisziplin
So hoffnungsvoll die Beliebtheitswerte für Klingbeil und Bas stimmen könnten, so sehr muss die neue SPD-Führung auf der Hut sein. Denn alle Spitzenpersonen bringen ein Manko mit. Bei Klingbeil und Bas ist das ihre Doppelrolle aus Parteichef und Kabinettsmitglied. Zum einen entsteht daraus ein Ressourcenproblem. Die beiden Politiker sind zeitlich schon stark in ihren Minister-Jobs eingebunden.
Seit es die Doppelspitze in der SPD gibt, war immer mindestens einer der beiden Vorsitzenden nicht Teil der Regierung und konnte sich voll auf die Parteiarbeit konzentrieren. Vor diesem Hintergrund mahnt beispielsweise der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Alexander Schweitzer, bei "The Pioneer": "Die Neuaufstellung der Partei ist eine Aufgabe, die gleichberechtigt neben der Regierungsarbeit laufen muss."
Zum anderen gibt es aber auch ein strategisches Problem. Klingbeil und Bas sind als Minister an eine gewisse Kabinettsdisziplin gebunden. Sie sollten sich nicht allzu weit von der Regierungslinie entfernen – sonst ist Koalitionsstreit vorprogrammiert. Sichtbar wurde das beispielsweise, als Bas sich mit ihrem Rentenvorstoß – der womöglich vor allem ein Signal an die Sozialdemokraten war – Kritik aus der Union einhandelte. "Besonders in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode, wenn es um die Positionierung gegenüber der Union für die nächste Bundestagswahl geht, könnte der SPD wegen der Doppelrollen ein Spielbein fehlen", glaubt Politikwissenschaftler Best.

An dieser Stelle läge die Verantwortung für die Abgrenzung von der Konkurrenz dann eigentlich beim Generalsekretär. Diesen Posten soll nach dem Willen der Parteiführung künftig Tim Klüssendorf übernehmen. Der Lübecker bringt Erfahrung als Sprecher des linken Fraktionsflügels mit und gilt als talentiert. Jedoch geht seine öffentliche Bekanntheit gegen null. Ob er wie sein Vor-Vorgänger Kevin Kühnert in Talkshows zu einem bekannten SPD-Erklärer werden kann, muss sich erst noch zeigen.
Negativ: Es hat sich viel Frust angestaut in der SPD
Das eindeutige Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag hat darüber hinweg getäuscht, dass sich bei den Sozialdemokraten viel Frust angesammelt hat – über die Wahlniederlage, aber auch über den Umgang damit. Weil der ehemalige Kanzler Olaf Scholz keine Rolle mehr spielt, bekommt nun vor allem Klingbeil den Ärger zu spüren. Auf mehreren Landesparteitagen der SPD nach der Wahl wurde er hart angegangen. Der Vorwurf: Er habe skrupellos nach dem Fraktionsvorsitz gegriffen, nur um kurz darauf zuzugreifen, als er Vizekanzler werden konnte.
Auch Wahlanalysen, die in der Partei kursieren, zeichnen nicht das beste Bild von Klingbeil. Ein Papier aus Rheinland-Pfalz, an dem auch der dortige Staatskanzlei-Chef Fedor Rose mitgeschrieben hat, greift den Parteichef gleich in mehrfacher Hinsicht an. Zum einen will die Analyse die Erzählung widerlegen, dass Klingbeil bei der Wahl 2021 als damaliger Generalsekretär der Architekt des Erfolgs gewesen sei. Den Wahlsieg sehen die Autoren eher als zufälligen, historischen Ausreißer. Zum anderen prangern sie eine "quälende Dominanz der gegenwärtigen Führungseliten" an.
Ein weiteres Autorenteam, beauftragt von der Parteiführung, kommt ebenfalls zu ernüchternden Ergebnissen: Die SPD wirke getrieben und biete keine überzeugende Erzählung mehr an, die Fehlerkultur in der Partei sei ausbaufähig, es gebe zu viel "Bürokratie- und PR-Sprech", es brauche wieder "Spitzenpersonal mit Strahlkraft". "Die SPD bedarf einer umfassenden Erneuerung", resümieren die Autoren.
Klingbeil muss befürchten, dass solche Kritik an seiner Person und der Partei allgemein sich auf dem Parteitag Ende Juni Bahn brechen wird. Sein Ergebnis bei der Vorsitzendenwahl könnte im besten Fall zum Denkzettel, im schlechtesten Fall zum Misstrauensvotum werden. "Ich vermute, dass Klingbeil deutlich hinter seinem Ergebnis bei den vergangenen beiden Vorsitzendenwahlen landen wird und auch schlechter als Bas abschneiden wird", erklärt Politikwissenschaftler Best. Es gebe allerdings im Moment keine Eliten in der Partei, die ernsthaft an einem Umsturz interessiert seien.