Afghanen-Frist läuft ab! Deutschland muss Antwort auf Abschiebe-Dilemma finden
Fragt man im Innenministerium und Auswärtigen Amt nach, wie es um das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan (BAP) steht, ist die Antwort seit Wochen die gleiche: Die Bundesregierung prüft, ob und wie ein endgültiger Stopp der Afghanen-Flüge nach Deutschland möglich ist.
Doch während sich Fachleute in den Ministerien über die Fragen beugen und Gerichte über mehrere Klagen von Afghanen verhandeln, könnten in Islamabad schon in der nächsten Woche Fakten geschaffen werden.
In der Hauptstadt Pakistans warten derzeit mehr als 2000 Afghanen, die eine Zusage erhalten haben, im Rahmen des BAP nach Deutschland kommen zu dürfen. Weil das unter Kanzler Friedrich Merz (CDU) politisch nicht mehr gewünscht ist, erhalten aktuell selbst die Afghanen kein Visum für die Bundesrepublik, die alle Schritte im langwierigen Prüfverfahren durchlaufen haben.
Aber auch Pakistan will die Afghanen nicht bei sich. Verlassen sie nicht freiwillig das Land, sollen sie nach dem 30. Juni in ihre Heimat abgeschoben werden.
Für Afghanen mit Aufnahmezusage wäre Abschiebung eine Tragödie
Für die wartenden Menschen, die sich auf die Zusage Deutschlands verlassen haben, käme das einer Tragödie gleich. Sie waren in Afghanistan beispielsweise als Journalisten oder als Aktivistinnen tätig, andere sind einfach nur alleinstehende Frauen oder homosexuell – alles Gründe für die Taliban, ihnen Schaden zuzufügen. Deshalb wurden die Menschen für das BAP gemeldet und haben eine Aufnahmezusage bekommen.
Den Afghanen wurde damals gesagt, dass sie nach Islamabad kommen müssen, um mit der dortigen Deutschen Botschaft die weiteren Schritte im Verfahren zu absolvieren. Um ein Visum für Pakistan finanzieren zu können, haben viele Afghanen ihre Häuser und Grundstücke in der Heimat verkauft.
Würden sie jetzt abgeschoben werden, müssten sie ihre Existenz in Afghanistan neu aufbauen – sollten sie nicht zuvor schon von den Taliban aufgegriffen werden.
Abschiebung aus Pakistan stürzt Regierung ins Dilemma
Ob die Afghanen nach einer Abschiebung noch eine realistische Chance hätten, über das BAP nach Deutschland zu kommen, ist fraglich. In Afghanistan könnte ihnen kein Visum für Deutschland ausgestellt werden. Die Sicherheitsinterviews, die bei einem Teil der mehr als 2000 Menschen noch ausstehen, könnten ebenso wenig durchgeführt werden.
Die Bundesregierung versetzt das in ein Dilemma. Die Abschiebungen würden wahrscheinlich das BAP auf chaotische Weise beenden. Das entspräche zwar im Ergebnis dem Vorhaben der Bundesregierung. Zugleich wäre es menschenrechtlich bedenklich, deswegen nichts gegen die Abschiebungen zu unternehmen und kann daher keine wirkliche Option sein.
Mehr als 2000 Menschen würde Deutschland der Willkür der Taliban überlassen. Das lässt sich aber nur sicher verhindern, indem die Bundesregierung entgegen ihrer politischen Absicht die Afghanen doch nach Deutschland holt.
Was sind die deutschen Schutzbriefe für Afghanen noch wert?
Das Auswärtige Amt betont, die Lage in Pakistan sehr genau zu beobachten. "Die Bundesregierung steht dazu auch über die Deutsche Botschaft in Islamabad in engem und hochrangigem Kontakt mit der pakistanischen Regierung, um zu verhindern, dass Abschiebungen Personen in den deutschen Aufnahmeverfahren betreffen", heißt es. Außerdem stehe man in "engem Austausch" mit internationalen Partnern.
Was aber, wenn Pakistan sich davon nicht beeindrucken lässt? Schahina Gambir, Bundestagsabgeordnete der Grünen, erklärt FOCUS online, die Ampelregierung habe einst veranlasst, dass Afghanen mit einer Aufnahmezusage einen Schutzbrief der Deutschen Botschaft erhalten.
"In dem Schutzbrief wird dargelegt, dass die Personen ein Aufnahmeverfahren an der Deutschen Botschaft durchlaufen", so Gambir. "So sollte die Abschiebung und Verhaftung afghanischer Staatsangehöriger durch die pakistanische Polizei verhindert werden."
Das Problem: Die Zusicherung in dem Schutzbrief, dass Deutschland die Afghanen früher oder später übernehmen wird, ist mit der aktuellen Linie der Bundesregierung hinfällig – das wird auch Pakistan registriert haben. Gambir betont daher: "Ernsthaft geschützt sind die afghanischen Staatsangehörigen nur, wenn sie endlich ein Visum erhalten und ausreisen dürfen."
Außenministerium verweist auf Notfallpläne
Im Außenministerium wird das offenbar nicht als Option gesehen. Stattdessen verweist man auf die Notfallpläne: Sollten die Afghanen abgeschoben werden, würde man "die Betreuung" der Menschen gewährleisten und Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme sicherstellen.
Zudem könnten sich die Wartenden jederzeit an die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) wenden, in deren Gästehäusern sie derzeit untergebracht sind.
Unter der Ampelregierung hat die Intervention Deutschlands bei Abschiebungen aus Pakistan funktioniert. Tatsächlich wurden Afghanen mit Aufnahmezusage, die von der pakistanischen Polizei in Gewahrsam genommen und abgeschoben wurden, wieder nach Pakistan zurückgebracht. Dass auch die schwarz-rote Regierung alle Hebel in Bewegung setzen würde, "muss selbstverständlich sein", fordert die Grünen-Abgeordnete Gambir.
Innenministerium und Union blocken unangenehme Frage
Während das Auswärtige Amt von Minister Johann Wadephul (CDU) zumindest erklärt, das Thema auf dem Schirm zu haben, macht das ebenfalls für das BAP zuständige Innenministerium von Alexander Dobrindt (CSU) auf Anfrage von FOCUS online eine klare Ansage.
Bis zum Abschluss der juristischen Prüfung des BAP werde kein Personal nach Islamabad geschickt, um noch fehlende Sicherheitsinterviews durchzuführen. Das heißt: Die Option, die Afghanen doch noch vor dem Ablauf der Frist Pakistans nach Deutschland zu holen, ist damit definitiv vom Tisch.
Die Frage, was das für den Fortgang des BAP und die wartenden Afghanen bedeutet, blockt das Innenministerium ab. Auch Innenpolitikern der Union sprechen lieber nicht darüber. Das Thema ist heikel. Niemand will verantwortlich sein, sollten Afghanen durch die Abschiebungen aus Pakistan in Gefahr gebracht werden.
"Jeder Tag kostet Würde, Sicherheit und im schlimmsten Fall Leben"
Letztlich geschieht das aber bereits jetzt durch das Zögern der Bundesregierung. Nach Angaben von Hilfsorganisationen wie der Luftbrücke Kabul gibt es unter den Afghanen in Islamabad regelmäßig Suizidversuche.
Elaha Hakim, die für die Organisation vor Ort ist, schildert zum Beispiel die Sorgen junger Frauen: "Sie haben Angst davor, nach Afghanistan zurückzukehren, weil sie dort zwangsverheiratet werden."
Die Wartenden würden ihr sagen, dass sie sich "wie in einem Feuerkessel" fühlen. "Wir weinen jeden Tag, weil wir nicht wissen, wann es aufhört. Eigentlich warten wir nur darauf, dass wir sterben", zitiert Hakim einen der Afghanen.
Besonders für Kinder sei der Schwebezustand zwischen Aufnahmezusage und drohender Abschiebung eine extreme psychische Belastung. "Sie haben hier keine Möglichkeit, einen Kindergarten zu besuchen oder Schulbildung zu bekommen. Die Kinder dürfen noch nicht einmal aus dem Haus, weil ihnen sonst die Verhaftung droht." Hakim fordert daher, dass die Bundesregierung sofort reagiert: "Jeder weitere Tag kostet Würde, Sicherheit und im schlimmsten Fall Leben."