„Extreme Belastung“: Polizisten werden für Stromunfälle geschult –„Immer gefährlichere Ausmaße“
Zuletzt mehrten sich diese Fälle: Junge Menschen klettern auf Züge, geraten der Oberleitung zu nahe, bekommen einen Stromschlag und verletzen sich lebensgefährlich. Auch für die Rettungskräfte sind es schwere und gefährliche Einsätze. Unsere Zeitung war dabei, als Polizisten für Stromunfälle geschult wurden.
Wolfratshausen – Auch Wochen später ist völlig unklar, ob und wie sich der Bub erholt. Ein 14-Jähriger war Anfang Juli in Wolfratshausen mit zwei Begleitern auf einen abgestellten Kesselwagen geklettert (wir berichteten). Er griff in die Oberleitung. Nach dem Stromschlag stürzte der Jugendliche vom Wagon auf den Boden, er erlitt lebensgefährliche Verletzungen. 80 Prozent seiner Körperoberfläche sind verbrannt, er liegt immer noch im Koma. Auch einer seiner Freunde erlitt Verbrennungen. Ein paar Tage später in Trudering stieg ein 19-Jähriger ebenfalls auf einen abgestellten Wagon. Auch er kam mit der Leitung in Berührung – und starb zwei Tage später. In Benediktbeuern wurde ein Jugendlicher gerade noch davon abgehalten, auf einen Zug zu klettern.
Schwerste Verletzungen nach Unfällen
Für die Ersthelfer sind derartige Unfälle ebenfalls heftig: der Anblick junger Menschen, deren Haut zu 80 Prozent verbrannt sind, die potenziellen Gefahren in der Nähe von Oberleitungen – nichts davon ist einfach so wegzustecken. Obendrein ist so ein Einsatz riskant: Zum Verletzten zu eilen, um ihm irgendwie zu helfen, kann auch die Retter in Lebensgefahr bringen. Robert Buxbaum ist Kommandant der Weidacher Feuerwehr. Die Ehrenamtlichen waren an dem Einsatz nach dem Wolfratshauser Unfall beteiligt. Buxbaum weiß um die Gefahren, die von der Oberleitung ausgehen. Er schulte kürzlich Beamte der Wolfratshauser Polizeiinspektion im richtigen Umgang mit solchen Vorfällen. Dr. Christoph Preuss – Feuerwehrarzt, Intensivmediziner und Leitender Notarzt in der Kreisklinik – erklärte, was aus medizinischer Sicht wichtig ist.

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Die Gefahren, die von Oberleitungen ausgehen, werden oftmals unterschätzt. „Damit es lebensgefährlich wird, muss man sie nicht einmal direkt berühren“, erklärt Buxbaum. Bahnoberleitungen haben eine Spannung von 15 000 Volt – das ist in etwa 65 Mal so viel wie aus einer Steckdose kommt. Es reicht, bereits eine Entfernung von 1,50 Meter zu unterschreiten. „Der Strom kann die Luft überspringen und über einen Lichtbogen über den Körper zur Erde gelangen.“ Der Mensch dient dem Strom dann als Leiter. Ist die Oberleitung beschädigt, muss der Sicherheitsabstand wachsen – zehn Meter empfiehlt Buxbaum. Bei einer auf die Erde herunterhängende Leitung sollten es 20 Meter sein.
Eigene Gefahren müssen minimiert werden
Wenn ein Notruf eingeht, gibt es ein festgelegtes Prozedere. Als erste Maßnahme wird eine Gleissperrung veranlasst. Sonst bringen sich die Einsatzkräfte selbst in Gefahr. „Der Fahrbetrieb muss völlig eingestellt werden“, sagt Buxbaum. „Eine S-Bahn kann keinem Hindernis ausweichen, zudem haben sie mit ihrem hohen Eigengewicht selbst bei einer Gefahrenbremsung einen extrem langen Bremsweg.“ Ein ICE beispielsweise benötigt bei einer Geschwindigkeit von 300 Kilometern in der Stunde rund drei Kilometer bis zum Stillstand. Zudem ist ein Zug sehr leise. Menschen hören ihn erst spät.
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Ein weiterer Gefahrenpunkt ist der Zustand der Oberleitung. „Ist sie beschädigt oder nicht? Hängt sie vielleicht sogar auf den Boden?“ Solche Fragen müssten sich die Einsatzkräfte stellen. Ist ein Baum in die Oberleitung gefallen, ist ein genauer Zustand oft nicht erkennbar. „Vorsicht geht vor“, gilt für die Einsatzkräfte. Was sie wissen müssen: Auch nachdem der Strom abgeschaltet wurde, steht die Oberleitung weiterhin unter Spannung. „In Einzelfällen liegt die bei bis zu 8000 Volt“, erklärt der Weidacher Kommandant. Gefahrlos retten die Polizisten und Sanitäter erst dann, wenn die Leitung vor und nach dem Unfallort geerdet worden ist. „Wir lassen die Erdungsstange hängen, um den Arbeitsbereich deutlicher zu kennzeichnen“, erklärt Buxbaum. Im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen sind nur die Feuerwehren in Kochel und in Weidach berechtigt zur Oberleitungserdung.
Enorme Verletzungen nach Stromschlägen
Die Folgen für den Verletzten bei einem Hochspannungsunfall sind enorm. Die hohen Temperaturen bei sogenannten Lichtbögen rufen schwerste, großflächige Verbrennungen und Gewebeverletzungen hervor. „Das kann sogar eine Amputation nach sich ziehen“, warnt Preuss eindringlich. „Das Blut thrombosiert.“ Die Organe werden in Mitleidenschaft gezogen. Es kommt oft zu Muskelkrämpfen und -lähmungen, Schäden am zentralen Nervensystem, Nierenschäden, Krampfanfällen, Herzrhythmusstörungen und Atemstillstand.

Viel können die Polizisten und Feuerwehrleute direkt an der Unfallstelle nicht tun. Wenn sie gefahrlos zum Opfer gelangen können, empfehlen die Experten, eine Rettungsdecke zu nutzen. Die könne „weiteres Verdunsten nach außen“ verhindern. Verwundungen decken sie mit sterilen, möglichst mit Alu beschichtetem Verbandsmaterial ab. „Man sollte nicht versuchen, die durch die Hitze geschmolzene Kleidung zu entfernen, weil die fest an der Haut klebt. Das kann nur unter Narkose geschehen“, erklärt Preuss weiter. Bei einem so schweren Unfall gibt es viele Opfer – auch mittelbare: „Man darf die Nachsorge für die Helfer nicht unbeachtet lassen. Sie stehen nach solch einem Einsatz oder einer Hilfeleistung selbst unter extremer Belastung.“ Die Bilder von vor Ort und die Gefahr im Einsatz seien schwer zu verarbeiten.
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Mutproben im Internet: „Gefährliche Ausmaße“
Die bereits aktenkundig gewordenen Unfälle werden keine Einzelfälle bleiben, ist sich Polizeikommissar Dominik Schmidt sicher. Gerüchte von „Challenges“, also Mutproben junger Leute, die sich im Internet präsentieren wollen, machen die Runde.
„Erst kürzlich ist in Benediktbeuern ein vermummter Jugendlicher, ausgestattet mit einer GoPro-Actionkamera und Selfiestick, auf die Heckdeichsel eines Zugs geklettert. Offensichtlich wollte er außen mitfahren und sich dabei filmen“, berichtet der Vertreter der Wolfratshauser Polizeiinspektion. S-Bahn-Surfen nennt sich dieser waghalsige Versuch. Anwohner haben den jungen Mann dabei beobachtet und aufgefordert, vom Zug zu steigen. „Die Mutproben nehmen immer gefährlichere Ausmaße an“, erklärt der Polizeibeamte. Er appelliert an Eltern, deren Kinder auf Tiktok oder anderen Videoplattformen unterwegs sind: „Reden Sie mit ihren Kindern, sensibilisieren Sie sie auf dieses Thema. Es kann Leben retten.“