Deutsche Wirtschaft abgehängt von China: „Wir haben den Anschluss verloren“
Autos, Raumfahrt, Medizin: Unternehmen aus China und den USA dominieren die Weltwirtschaft, Deutschland hechelt hinterher. Ein Experte sagt, was wir nun tun müssen.
Deutschland als technologische Supermacht – das war einmal. Heute exportiert China mehr Autos als jedes andere Land der Welt, die USA dominieren mit Unternehmen wie Amazon und Google das Internet. Europa hilflos zu. Im Interview erklärt der China-Kenner Wolfgang Hirn, was Deutschland falsch gemacht hat – und was wir von den Chinesen lernen können. Hirn war jahrelang Redakteur des manager magazin, zuletzt erschien von ihm das Buch „Der Tech-Krieg: China gegen USA – Und wo bleibt Europa?“

Herr Hirn, in Ihrem Buch schreiben Sie: „Wir schätzen die Chinesen zu schlecht ein und uns zu gut.“ Über das noch immer verbreitete Vorurteil, dass Chinesen nur kopieren können, können Sie wahrscheinlich nur den Kopf schütteln.
Es stimmt ja: Die Chinesen haben lange Zeit kopiert. Denken Sie nur an die Autoindustrie, wo China die westlichen Unternehmen in Joint Ventures gezwungen und ihnen sehr viel Technologie geklaut hat. So sah damals chinesische Wirtschaftspolitik aus. Aber diese Zeiten sind vorbei, und das haben viele hier nicht mitbekommen. China ist nicht mehr nur der Kopierer, sondern steht in manchen Technologien an der Spitze – bei E-Autos zum Beispiel oder beim autonomen Fahren.
Und wo überschätzen wir in Europa uns?
Das ist ein Vorwurf, den ich der Politik mache, nicht der Wirtschaft. Viele große und kleine Unternehmen sind in China präsent, die wissen, was da passiert. In der Politik hingegen weiß man sehr wenig über China. Da haben alle zwar eine klare Meinung, die basiert aber eher auf Klischees als auf fundiertem Wissen. Ich spüre da eine Mischung aus Arroganz und Ignoranz. Hier in Berlin bekomme ich mit, wer in der deutschen Politik China-Kompetenz hat – das kann ich an beiden Händen abzählen. Es ist doch bezeichnend, dass weder der Wirtschaftsminister noch die Forschungsministerin bislang in China waren.

Lange wollte hierzulande auch niemand wahrhaben, dass China unseren Autobauern einmal ernsthaft Konkurrenz machen könnte. Heute ist das Land der größte Auto-Exporteur der Welt. Haben Sie noch Hoffnung für VW und Co.?
Für die deutschen Hersteller wird es extrem schwierig. VW versucht jetzt, mit günstigen E-Autos Marktanteile zu gewinnen, aber das kommt viel zu spät. Ich glaube nicht, dass VW noch einen Fuß in den chinesischen Markt bekommt. Auch im Luxussegment wird es für deutsche Hersteller schwierig, die haben das ebenso verschlafen wie die Amerikaner. Die dachten, die Chinesen würden noch lange Zeit lieber ausländische Autos kaufen statt ihre eigenen, aber das ist nicht passiert. Und sie haben zu lange auf Verbrenner gesetzt.
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„ Wir stehen praktisch immer an dritter Stelle, hinter den USA und China“
Was haben die Chinesen besser gemacht als wir?
Die Chinesen haben vor zehn, zwölf Jahren entschieden: Wir setzen auf E-Mobilität. Und dann haben sie die Konsequenzen gezogen. Wer E-Autos bauen will, braucht auch Batterien. Und wer Batterien bauen will, braucht die entsprechenden Rohstoffe. Und beides sind die Chinesen strategisch angegangen. Unsere Hersteller hingegen haben gesagt: Batterien kaufen wir einfach bei Zulieferern, so wie wir das auch mit Bremsbelägen machen. Und das rächt sich jetzt. Heute sind chinesische Batteriehersteller wie CATL weltweit führend.
Auch beim autonomen Fahren scheint Deutschland den Anschluss verloren zu haben.
In China fahren autonome Taxis durch die Städte, und wir sind froh, wenn in Hamburg mal ein autonomes Shuttle ein paar Meter durch die Gegend kurvt. Wir sind die Auto-Nation, aber beim autonomen Fahren hinken wir hinterher. Da sind die Chinesen und die Amerikaner vorne. Wir haben bei vielen Technologien den Anschluss verloren. Wir stehen praktisch immer an dritter Stelle, hinter den USA und China.
Wo noch?
Im Weltraum spielen die Europäer keine große Rolle, wir haben nicht mal mehr eine eigene Trägerrakete. Oder in der Biomedizin – wir Deutschen waren mal die Apotheke der Welt, aber das ist vorbei. Daran ändert auch der Erfolg von Biontech nicht viel. Auch bei den Digitalkonzernen ist es nicht anders, da muss man in den Ranglisten der weltweit größten Unternehmen schon sehr weit nach hinten scrollen, um Firmen aus Deutschland oder Europa zu finden.
Wie konnte es so weit kommen?
In Deutschland haben wir eine gute Grundlagenforschung. Wir haben die Max-Planck-Gesellschaften und das Fraunhofer-Institut, wir haben tolle Universitäten. Das Problem ist, dass wir es nicht mehr schaffen, gute Ideen in marktfähige Produkte umzusetzen.
„Bei uns denkt die Politik in Vier-Jahres-Rhythmen, das ist der Nachteil einer Demokratie“
Warum nicht?
Vielleicht, weil wir eine satte Gesellschaft geworden sind. China hingegen ist noch immer eine sehr hungrige Gesellschaft. Vieles in dem Land erinnert mich an die 1950er und 1960er Jahre, an diese Aufbruchsstimmung, die wir in Deutschland hatten und in die ich hineingeboren wurde. Da wollten wir immer mehr: mehr Fortschritt, mehr Konsum. Das ist vorbei. Was uns fehlt, ist der Unternehmergeist.
Und in den USA?
Die USA sind zwar auch eine Nation, die schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Aber die Zuwanderung sorgt dafür, dass das Land nicht stehen bleibt. Schauen Sie ins Silicon Valley, wie viele Chinesen oder Inder da arbeiten. Wir haben diese Art von Zuwanderung nicht und schaffen es auch nicht, attraktiv zu werden für Zuwanderer. Hinzu kommt: Die Chinesen – und übrigens auch die Amerikaner – sind sehr technikaffin. Während bei uns noch Bedenken vorgebracht werden, probieren die das einfach mal aus. Ein gutes Beispiel sind Zahlungen übers Smartphone, die kann man in China überall machen. In Deutschland ist man immer noch aufs Bargeld angewiesen, da liegen wir viele Jahre zurück.
Sie waren erstmals 1986 in China. War damals schon irgendwie absehbar, wo China heute stehen würde?
Nein, das nicht. Aber ich weiß noch, wie ich Ende der 1980er oder Anfang der 1990er in Shanghai ein Modell vom geplanten neuen Stadtteil Pudong gesehen habe (heute das moderne Wirtschaftsviertel der Stadt, d. Red.). Mein erste Gedanke war: Die sind verrückt, das bauen die nie. Aber sie haben es gemacht. Die Chinesen denken größer als wir. Und sie denken langfristiger. Das ist natürlich auch dem politischen System geschuldet, wo alles von oben diktiert wird. Bei uns denkt die Politik in Vier-Jahres-Rhythmen, das ist der Nachteil einer Demokratie.
„Wir brauchen ein strategisch unabhängiges Europa“
Wir können uns aber doch schlecht das chinesische System zum Vorbild nehmen.
Nein, natürlich nicht. Aber was spricht denn dagegen, dass sich auch Demokratien langfristige Strategien geben? Man kann sie vielleicht nicht so brutal durchsetzen wie in einem autoritären System. Aber wir können auch Zukunftstechnologien identifizieren, in die wir dann Staatsgelder stecken, so wie Peking das macht. Industriepolitik war immer ein verpönter Begriff in Deutschland, das würde angeblich nicht zu einer Marktwirtschaft passen. Immerhin, langsam ändert sich das. Aber wir brauchen auch eine verstärkte europäische Zusammenarbeit, wir müssen bei Zukunftstechnologien viel enger kooperieren. Bei Airbus hat das, trotz einiger Probleme, ganz gut geklappt.
Wo bräuchte es heute ein „zweites Airbus“?
Zum Beispiel bei der Chip-Produktion. Mit ASML in den Niederlanden haben wir in Europa den Weltmarktführer für Maschinen zur Chip-Herstellung, in Belgien haben wir Spitzen-Forscher. Trotzdem hat Europa weltweit nur einen Marktanteil von vielleicht zehn Prozent bei Chips. Weil jedes Land auf eigene Faust versucht, mit Milliarden-Subventionen große Chip-Hersteller zu sich zu holen. Wir konkurrieren in Europa miteinander, statt zusammenzuarbeiten. Jetzt will die EU unseren Anteil auf 20 Prozent erhöhen. Schön, aber dann haben wir immer noch eine Abhängigkeit von 80 Prozent.
Die Amerikaner versuchen, China mit Handelsbeschränkungen kleinzuhalten. Sollte Europa da mitmachen?
Wir als Europäer sollten unsere Interessen stärker artikulieren, gegenüber den Chinesen, aber auch gegenüber den USA. Natürlich teilen wir dieselben Werte wie die USA, aber das heißt nicht, dass wir dieselben wirtschaftlichen Interessen haben. Wenn die Amerikaner meinen, sie müssten in einen Tech-Krieg gegen China ziehen, müssen wir uns sehr genau überlegen, ob wir uns da hineinziehen lassen wollen. Denn gerade wir Deutschen sind mit unserer Exportabhängigkeit viel anfälliger für Gegenmaßnahmen der Chinesen. Wir brauchen ein strategisch unabhängiges Europa.