Zukunftsforscher Thomas Druyen: Generationen-Konflikt: Warum Eltern im digitalen Zeitalter auf der Strecke bleiben.
Digitale Transformation destabilisiert Elternrolle
Die familiären Machtverhältnisse haben sich im Zuge der digitalen Transformation tiefgreifend verschoben. Eltern, traditionell in der Rolle der Wissensvermittler und Autoritätspersonen, stehen heute zunehmend unter Druck und unter Stress. Überwiegend besitzen ihre Kinder überlegene Kompetenzen im Umgang mit digitalen Technologien und Künstlicher Intelligenz.
Dieser bislang einmalige Generationsvorsprung der Jüngeren in zentralen Alltagsfragen wie Smartphone-Nutzung, digitaler Kommunikation und algorithmischer Orientierung bringt eine Verunsicherung mit sich, die viele Eltern als Kontrollverlust erleben. Der elterliche Anspruch auf Überblick und Führung verliert an Plausibilität, wenn Kinder technische Abläufe nicht nur schneller verstehen, sondern diese auch kreativer und sicherer anwenden.
Die Folge ist eine asymmetrische Beziehung, in der sich Eltern zunehmend überfordert fühlen – insbesondere dann, wenn sie ihre eigene Medienkompetenz als unzureichend empfinden. Dies kann auch zu einem Gefühl des sozialen Rückstands führen, weil elterliche Handlungsfähigkeit zunehmend an technische Anschlussfähigkeit gekoppelt ist.
Über Thomas Druyen
Thomas Druyen beschäftigt sich seit über drei Jahrzehnten mit den Auswirkungen von Veränderung auf die Psyche, die Gesellschaft und die Generationen. Er ist seit 2015 Direktor des Instituts für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement sowie seit 2006 Direktor des Institutes für Vergleichende Vermögenskultur und Vermögenspsychologie an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien.
Digitale Welt untergräbt traditionelle Erziehungspraktiken
Was früher durch Erfahrung und lebenspraktische Kompetenz kompensiert wurde, reicht heute nicht mehr aus. Die digitale Welt eröffnet nicht nur neue Räume der Teilhabe, sondern entzieht sich häufig auch dem direkten Einfluss traditioneller Erziehungspraktiken. Kinder navigieren spielerisch durch TikTok, Discord, ChatGPT und andere Plattformen, während viele Eltern in unterschiedlichen Milieus damit beschäftigt sind, überhaupt die Grundmechanismen zu verstehen.
Diese technologische Disparität führt zu einer Destabilisierung der elterlichen Rolle: Wo kein Verständnis für die digitale Lebensrealität der Kinder besteht, und eine Idee der monumentalen Optionen von KI schlechthin, kann auch keine glaubwürdige Orientierung gegeben werden. Ein Verbot bleibt leer, wenn es nicht nachvollziehbar begründet ist – und Kinder durchschauen sehr schnell, ob solche Begründungen Substanz haben oder nur der Ohnmacht entspringen.
Diese Ohnmacht wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass digitale Räume auch normative Räume sind, in denen Kinder eigene Werte, Kommunikationsformen und Zugehörigkeiten entwickeln – oft ohne Beteiligung oder gar Kenntnis der Eltern.
Sozialer Druck und digitale Souveränität
Parallel dazu verdichtet sich der Alltag von Familien: ökonomischer Druck, berufliche Überlastung, permanente Erreichbarkeit und eine allgemeine Verunsicherung setzen Eltern zusätzlich unter Stress. In diesem Kontext wirkt der Verlust digitaler Souveränität doppelt: nicht nur als Autoritätskrise, sondern auch als emotionale Überforderung.
Gespräche zwischen Eltern und Kindern nehmen ab, das gegenseitige Verständnis schwindet, Konflikte eskalieren schneller, weil sie auf einem Terrain stattfinden, auf dem die Eltern keine Souveränität besitzen. Die familiäre Kommunikation verändert sich – nicht selten werden Konflikte über Medienverhalten zu Stellvertreterkonflikten für tiefere Unsicherheiten und Machtverschiebungen in der Beziehung zwischen den Generationen.
Zudem ist der Zugang zu Medienbildung ungleich verteilt. Eltern mit geringerer Bildung, begrenzten Ressourcen oder in Alleinerziehendenkonstellationen haben oft weniger Möglichkeiten, sich mit neuen Technologien auseinanderzusetzen. Der digitale Graben vertieft sich also nicht nur zwischen den Generationen, sondern auch innerhalb gesellschaftlicher Gruppen. So entsteht eine doppelte Ohnmacht: eine pädagogische und eine soziale. Die strukturellen Voraussetzungen für gelingende Elternschaft divergieren zunehmend – das führt zu einer wachsenden Differenzierung pädagogischer Handlungsspielräume und letztlich auch zu neuen Ungleichheiten in der Erziehung selbst.
Kompetenzorientierter Aufbruch als Lösungsansatz
Die Lösung liegt nicht in einem autoritären Rückzug, sondern in einem kompetenzorientierten Aufbruch. Eltern, die bereit sind, sich auf das Lernen einzulassen, können ihre Rolle neu definieren. Digitale Bildung für Eltern – ob in Form von Kursen, Beratungsangeboten oder Peer-to-Peer-Formaten – ist ein erster Schritt. Dabei geht es weniger um technische Detailkenntnis als um ein grundsätzliches Verständnis der Funktionslogiken digitaler Systeme. Begriffe wie Algorithmus, Filterblase, Deepfake oder generative KI dürfen keine Fremdworte bleiben, wenn Eltern sich als ernstzunehmende Gesprächspartner ihrer Kinder verstehen wollen. Noch entscheidender ist aber die Haltung, mit der Eltern diesen Lernprozess angehen: Offenheit, Selbstreflexion und die Bereitschaft, gemeinsam mit den Kindern neue Wege zu gehen, schaffen eine Atmosphäre gegenseitiger Anerkennung. Wer als Elternteil sichtbar und authentisch lernbereit ist, kann auch in unbekanntem Terrain Vorbild sein.
Neue Form der Autorität im digitalen Zeitalter
Erziehung im digitalen Zeitalter basiert auf einer anderen Form von Autorität. Sie präferiert Beziehung nicht Kontrolle, sie braucht kompetenten Dialog und nicht bloße Anweisung. Wer sich für die digitale Realität der Kinder interessiert, wer zuhört, fragt und gemeinsam reflektiert, baut Vertrauen auf. Regeln, die aus diesem Dialog entstehen, werden wahrscheinlicher akzeptiert als einseitig gesetzte Verbote.
Digitale Rituale, gemeinsam gesetzte Nutzungsregeln und eine transparente Haltung gegenüber Medienkonsum schaffen einen Raum, in dem Eltern auch ohne technische Überlegenheit als Orientierungspersonen bestehen können. Gleichzeitig kann eine solche dialogische Haltung auch dazu beitragen, dass Kinder sich in ihren Erfahrungen ernstgenommen fühlen – was wiederum die emotionale Bindung stärkt und auch die Kenntnisnahme möglicher Gefahrenlagen wie digitales Mobbing oder Suchtphänomene erleichtert.
Künstliche Intelligenz als Thema und Werkzeug
Künstliche Intelligenz kann in diesem Zusammenhang sowohl Hilfsmittel als auch Thema pädagogischer Auseinandersetzung sein. Sie entlastet im Alltag – etwa durch Planungs- und Lernunterstützung – und kann zugleich zur kritischen Reflexion über Datenschutz, Autonomie und Verantwortung anregen.
Wichtig ist, dass Eltern verstehen, wie KI funktioniert, welche Chancen sie bietet, aber auch, wo ihre Grenzen liegen. Die Delegation von Fürsorge an technische Systeme darf nicht zur Entfremdung führen. Es braucht ein Bewusstsein dafür, dass KI nicht Beziehungsarbeit ersetzt, sondern nur begleiten kann. Darüber hinaus können Eltern gemeinsam mit ihren Kindern eine kritische Medienpraxis entwickeln, in der KI nicht nur Werkzeug, sondern auch Gegenstand gemeinsamer vernünftiger Überlegungen ist – etwa zur Frage, wie man Wahrheit erkennt, wie sich Urheberschaft verändert und welche sozialen Folgen Automatisierung mit sich bringt. Hier lernt eine ganze Gesellschaft sich souverän auf die Zukunft und einen permanenten Wandel einzustellen.
Anpassungsfähigkeit als Schlüsselressource
In einer Welt ständiger Veränderung ist nicht Sicherheit, sondern Anpassungsfähigkeit die Schlüsselressource. Neugierde, Denkbereitschaft, Ambiguitätstoleranz und Urteilskraft gehören zu den Zukunftskompetenzen, die auch Eltern kultivieren müssen – nicht nur für sich selbst, sondern auch als Modell für ihre Kinder. Die eigene Lernbereitschaft wird zum pädagogischen Werkzeug. Eltern, die sich zumuten, auch Fehler zu machen, offen zu bleiben und ihre Unsicherheiten zu benennen, geben ein starkes Signal: dass Autorität nicht in Allwissenheit besteht, sondern in Integrität. Und diese Integrität wird dann spürbar, wenn Eltern die Haltung leben, die sie von ihren Kindern erwarten: Dialog, Verantwortung, Perspektivwechsel.
Elterliche Autorität im Übergang
Die Krise der elterlichen Autorität ist somit kein Defizit, sondern ein Zeichen des Übergangs. Sie eröffnet die Chance, pädagogische Beziehungen neu zu denken – als wechselseitiges Lernen, als gemeinsame Orientierungssuche im digitalen Raum. Kompetenz wird dabei zur neuen Legitimationsquelle. Sie ersetzt nicht das Vertrauen, sondern begründet es neu: durch Sachkenntnis, kritische Medienpraxis und reflektierte Anwendung technologischer Werkzeuge. In diesem Sinne kann auch der verantwortungsvolle Umgang mit Künstlicher Intelligenz als zukunftsfähiges und gerechtes Autoritätsprinzip verstanden werden – eines, das Orientierung bietet, weil es selbst orientiert ist.
So entsteht eine neue Form von Elternschaft, die nicht auf Vormacht beruht, sondern auf geteilter Verantwortung – für das Kind, die Gesellschaft und die digitale Zukunft. Natürlich wäre es hilfreich, wenn diese Veränderungsbereitschaft auch in der Politik umgesetzt würde. Dies scheint aber ein mühsames Unterfangen zu sein.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.